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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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er den Auftrag in Sekundenschnelle wieder vergaß, wenn irgendetwas anderes seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Ein Käfer, der über den Tisch krabbelte, den er abräumen, oder eine Wolke, die vorüberzog und ihn faszinierte, wenn er Holz holen sollte.
    Doch Edi hatte durchaus ein gutes Gedächtnis und ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, so wie ein Hund nie die Hand vergaß, die ihn geschlagen hatte. Er war in der Lage, ein Kind völlig unvermittelt in den Graben zu stoßen, weil dieses Kind ihn vor Monaten einmal gehänselt und geärgert hatte. So ein Vorfall brannte sich für Ewigkeiten in sein kleines Gehirn.
    »Man muss ihn behandeln wie einen Hund, den man liebt«, hatte Romano zu Sarah gesagt. »Dann kann man gar nichts falsch machen, und dann wird er einen auch lieben.«
    »Du verlangst im Ernst, ich soll meinen Sohn behandeln wie einen Hund?«, fragte Sarah spöttisch. »Du kannst doch nicht ganz bei Trost sein!«
    »Ja«, sagte Romano. »Ja, das ist die einzige Möglichkeit, an ihn heranzukommen.«
    Die Diskussion war beendet, aber Sarah konnte mit Romanos Ratschlag nichts anfangen.
    Manchmal stellte sie ihn vor zwei Alternativen: »Möchtest du jetzt brav den Tisch abräumen und dann noch ein
bisschen fernsehen, oder möchtest du lieber sofort in deinem Zimmer verschwinden und schlafen?« Edi reagierte überhaupt nicht. Er tat weder das eine noch das andere, sondern lief hinaus, setzte sich in seinen Verschlag, sah in den Abendhimmel und rieb sich unaufhörlich die Hände.
    »Ich will dich ja nicht ärgern«, sagte Romano daraufhin zu Sarah. »Aber einen Hund kannst du auch nicht vor die Wahl stellen: Möchtest du dich jetzt auf die Decke legen oder lieber in dein Körbchen gehen? Er wird dir nie eine Antwort geben können, er begreift auch nicht, was du willst. Wahrscheinlich wird er in den Hof laufen und Hühner jagen. Und genauso ist Edi.«
    Romano saß auf der Erde vor Edis Verschlag und spürte die feuchte Kälte, die ihm die Beine heraufzog. Er nahm Edis Hand in die seine und streichelte ihn sanft.
    »Es wird alles wieder gut, glaub mir.«
    »Morgenrot – Mama tot«, sagte Edi.

27
    Enzo wusste, dass sich mit Sarahs Tod sein ganzes Leben verändert hatte. Obwohl er immer noch im gewohnten Rollstuhl im vertrauten Zimmer am Fenster saß, obwohl Teresa ihn bekochte und pflegte und obwohl sein Stiefsohn Romano mit Edi und Elsa nur ein Stockwerk über ihm wohnte, spürte er, wie die Einsamkeit wie eine übermächtige Welle über ihm zusammenschlug, ihn mit sich riss und er sich geschlagen geben musste. Nie wieder würde er dort an Land gespült werden, wo er weggeschwemmt worden war. Er war der einsamste Mensch der Welt, auch wenn er im Schoße seiner übrig gebliebenen Familie wohnte.
    Eine Frau wie Sarah würde es nie wieder geben.
    »Stell dich nicht so an«, schnauzte Teresa, wenn sie, wie immer ohne anzuklopfen, urplötzlich im Zimmer stand und seine Tränen sah, die ihm lautlos die Wangen hinunterliefen. »Du benimmst dich wie ein Liebhaber, der seine Freundin verloren hat, und nicht wie ein alter Mann, dessen Schwiegertochter gestorben ist. Herrgott, Enzo, was ist denn los mit dir?«
    Natürlich konnte er darauf nicht antworten, er wünschte sich nur, sie möge ihn endlich wieder allein lassen. Aber sie dachte nicht daran, sondern setzte sich auf ihren Stuhl
am Fenster und ließ wie immer ihren Rosenkranz durch die Finger gleiten. Ihr gleichmäßiges Gemurmel ging ihm auf die Nerven, weil er wusste, dass sie alles tat, aber nicht beten. Ihre Lippen bewegten sich, und ihr Mund plapperte mechanisch, während ihre Gedanken in ganz andere Richtungen davonflogen. Er vermutete, dass sie sich nur mit dem Rosenkranz beschäftigte, weil es ihr albern vorgekommen wäre, ihm gegenüberzusitzen, zu schweigen und ihn zu beobachten.
    Es waren bestimmt fünf Minuten vergangen, da sagte sie plötzlich: »Sie hat dich geradezu verhext. Das hab ich ja gar nicht gewusst.«
    Enzo schloss die Augen und dachte daran, wie sie ihm das erste Mal gegenübergestanden hatte. Jung und schmal und mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm, das sich die Lunge aus dem Hals schrie. »Buonasera, sono Sarah«, brüllte sie, um das Gekreische zu übertönen, während Romano einen Arm um ihre Schulter legte.
    Wie aus einem Impuls heraus streckte Enzo ihr die Arme entgegen, um sie zur Begrüßung zu umarmen, aber sie missverstand ihn und gab ihm Elsa, als habe er darum gebeten, sie auf den Arm nehmen zu dürfen. Als er das Kind

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