Hexenkind
Fall Sarah Simonetti weiter?«
»Hm. Geht so.«
»Das klingt ja wenig berauschend.«
Neri nahm die Zeitung wieder hoch. »Bitte, Gabriella, fang jetzt nicht schon wieder davon an.«
»Ich werd doch wohl mal fragen dürfen. Du erzählst mir ja nichts.«
»Ich tue meine Arbeit, und so ein Fall braucht Zeit. Ich muss das gesamte Umfeld der Signora kennenlernen, und die Leute sind nun mal nicht sehr gesprächig.«
»Vielleicht musst du einfach ein bisschen freundlicher sein. So wie du guckst, würde ich dir auch nichts erzählen.«
Neri faltete wütend die Zeitung zusammen und schlug damit auf den Tisch.
»Warum machst du nicht meine Arbeit? Wahrscheinlich hättest du den Mörder längst verhaftet, du weißt ja immer alles besser.«
»Kann schon sein«, erwiderte Gabriella schnippisch und war sich bewusst, dass sie völlig unnötigerweise wie fast jeden Tag einen Streit heraufbeschworen hatte, der wahrscheinlich bis morgen Früh die Atmosphäre vergiften würde. Aber sie konnte es nicht ändern. Neri provozierte sie einfach mit seiner passiven Art.
»Eine Verhaftung würde jedenfalls bei deinen Vorgesetzten nicht den schlechtesten Eindruck machen.«
Vor fünf Jahren hatte Neri seine Stelle als leitender Kommissar in Rom verloren. Im Mordfall eines kleinen Mädchens hatte er im Zentralcomputer der Polizei nur unter den Stichworten: »Kindermörder«, »Triebtäter«, »Kinderschänder«
und »Pädophiler« recherchiert, nicht aber unter »Entführer« und »Exhibitionist«. Sonst hätte er herausgefunden, dass in der Straße des ermordeten Mädchens, nur drei Häuser weiter, ein vorbestrafter Gelegenheitsarbeiter wohnte, der häufig als Exhibitionist aufgefallen war und einige Jahre zuvor eine Zwölfjährige entführt, in seine Gewalt gebracht und von den Eltern Lösegeld verlangt hatte. Bei der dilettantischen Geldübergabe wurde er festgenommen, saß vier Jahre im Gefängnis und war dann auf Bewährung entlassen worden.
Im aktuellen Fall des verschwundenen Mädchens wurde erst nach dem Hinweis einer Nachbarin die Wohnung des Mannes durchsucht. Im Kasten der Bettcouch fand man die Leiche.
Neri konnte wählen: Kündigung oder Versetzung nach Montevarchi.
In der Kleinstadt und der ländlichen Gegend zwischen Montevarchi und Siena kamen hauptsächlich Einbrüche, Autodiebstähle, Ladendiebstähle oder Schlägereien vor, vereinzelt auch Selbstmorde, gewalttätige Ehestreitigkeiten oder Jagdunfälle mit Todesfolge. Obwohl die Treiber auf einer Treibjagd knallorange- und leuchtfarbene Westen trugen, passierte es doch immer wieder, dass ein Jäger den anderen mit einer Wildsau verwechselte und über den Haufen schoss. Neri ermittelte dann – meist ohne Erfolg -, ob es Absicht war oder nicht.
Allerdings hatte vor fast genau einem Jahr der Fall eines Kindermörders für erhebliche Aufregung gesorgt. Ein Deutscher hatte nicht nur in Deutschland, sondern auch in dieser Gegend mehrere kleine Jungen getötet, bis er schließlich in der Nähe von Ambra verhaftet wurde. Neri hatte
von dem Fall nur gehört, da die Ermittlungen wegen ihrer Dringlichkeit und Brisanz von höchster Ebene direkt an den Maresciallo Albano Lorenzo aus Arezzo übertragen wurden.
Die Versetzung nach Montevarchi hatte ihm Gabriella nie verziehen. Sie hatte das Leben in Rom geliebt, Rom war ihre Heimatstadt, sie fühlte sich als stolze Römerin und nicht als Landpomeranze. Das Leben in dieser bürgerlichen toskanischen Kleinstadt langweilte sie unendlich, und sie klammerte sich an die einzige Hoffnung, dass Neri durch eine außergewöhnliche Leistung vielleicht die Möglichkeit bekommen könnte, nach Rom zurückzukehren.
Der Fall der ermordeten Sarah Simonetti war Neris Chance. Seine einzige und wahrscheinlich auch seine letzte.
»Was hast du heute vor?«, fragte Neri versöhnlich. Er wollte nicht den ganzen Tag an den morgendlichen Streit denken müssen.
»Ich werde den kulturellen und gesellschaftlichen Höhepunkt dieser Stadt genießen und auf dem Markt Gemüse einkaufen. Es wird wahnsinnig aufregend sein, und ich kann es gar nicht erwarten, uns zum Abendessen auch noch ein Stück Porchetta zu besorgen und dann an den Marktständen vorbeizuflanieren, um mir die billigen Pullover, knallbunten Bettdecken oder rosafarbenen BHs anzugucken, die dort schon seit einem halben Jahr Woche für Woche auf einen Käufer warten. Dann werde ich zu Hause irgendetwas Wundervolles kochen und auf dich und Gianni warten. Und ich werde das Essen immer wieder in
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