Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
Vom Netzwerk:
den Sarg und Edi einen ganzen Berg voller Unkräuter, Blumen und Sträucher, die er schon vor Tagen gesammelt hatte und die zum größten Teil bereits verwelkt waren. Den Blumen hatte er die Köpfe abgebissen oder abgerissen.
    »Ach, du Schreck – alles weg«, sagte er.
     
    Es war bereits dunkel und kalt, aber Edi hockte immer noch in seinem Verschlag.
    Zwischen dem alten Teil des Hauses, das von der Familie Simonetti bewohnt wurde, und dem Magazin, in dem Romano die Wein- und Lebensmittelvorräte für die Trattoria lagerte, gab es einen kleinen Zwischenraum. Er war ungefähr hundertzwanzig Zentimeter breit und zwei Meter tief. Romano wusste bis heute nicht, ob diese Nische früher einmal durch Zufall oder Unachtsamkeit beim Bau entstanden oder ob sie zu irgendetwas nütze gewesen war. Sein Vater hatte dort immer ungesägtes Holz gesammelt, da das Dach über die Nische ragte und das Holz trocken blieb.
Aber seit Eduardo auf der Welt war, war diese Nische sein Reich. Sein Versteck, obwohl jeder wusste, dass er dort war. Wer Edi suchte, ging immer zuerst zum Versteck, und wenn er nicht gerade in den Olivenhainen, den Weinbergen oder im Wald herumstreunte, war er mit Sicherheit dort. Sein Zimmer benutzte er lediglich zum Schlafen, und das nur gezwungenermaßen. Am liebsten hätte er auch in seiner Nische, seinem Nido, seinem Nest, geschlafen, aber das hatte Sarah nie erlaubt.
    »Seid ihr wahnsinnig?«, hatte sie Romano schon vor Jahren entgeistert gefragt. »Allein auf so einen Gedanken zu kommen! Die körperlichen und geistigen Behinderungen, die Edi hat, reichen mir voll und ganz. Es ist nicht nötig, dass er sich auch noch Zecken und Lungenentzündungen holt und von Schlangen und Skorpionen beißen lässt, wenn er dort draußen schläft.«
    Romano sagte nichts dazu, die Diskussion war beendet. Edi murmelte tagelang »böse Mama«, wenn er Sarah sah. Sie ignorierte das, obwohl es sie furchtbar ärgerte, und nach einer Woche hörte Edi ganz von allein wieder damit auf. Wahrscheinlich hatte er mittlerweile vergessen, warum Mama böse war.
    Mittlerweile war Edi siebzehn, aber er saß immer noch von früh bis spät in seinem Verschlag und kraulte sein Kaninchen, das er ständig mit sich herumschleppte und das er »Tiger« genannt hatte, weil er davon überzeugt war, dass ein Kaninchen keinen größeren Wunsch hatte, als irgendwann einmal zu einem Tiger zu mutieren.
    Romano hörte ihn schon von Weitem vor sich hin murmeln, als er langsam auf Edis Versteck zuging. Edi hatte die Angewohnheit, ständig mit sich selbst zu reden. Aber auch
wenn man ihn belauschte, war es schwer, seinen Worten irgendeinen Sinn zu entnehmen. Häufig reihte er auch nur Laute aneinander. Auf Fragen antwortete er selten und nur, wenn er ausgesprochen gut gelaunt war. Am ehesten kommunizierte er noch mit seiner Schwester Elsa.
    Romano setzte sich vor den Verschlag. Edi wurde fuchsteufelswild, wenn sich irgendjemand anders in seinen Verschlag setzte. Edi sah Romano nicht an, sondern kraulte sein Kaninchen mit einer Intensität, dass sich Romano wunderte, wie das kleine Vieh das unentwegt aushielt.
    »Geht’s dir gut, mein Schatz?«, fragte er leise.
    »Heute froh – morgen so«, erwiderte Edi und zog seine nicht vorhandenen Augenbrauen hoch.
    »Die Mama schläft jetzt in der Erde. Und ihre Seele fliegt in den Himmel. Verstehst du das?«
    Edi nickte ernsthaft. »Auf der Leiter – immer weiter.«
    »Sie ist hoch über den Wolken und passt auf dich auf. Ist das nicht prima?«
    »Primaballerina«, meinte Edi und kicherte.
    Er nahm das Kaninchen hoch und gab ihm mehrere dicke, feuchte Küsse direkt auf die Nase. Das Kaninchen nieste.
    »Bist du traurig, dass die Mama nicht mehr wiederkommt?«
    Edi überlegte eine Weile und wiederholte dann langsam in abgewandelter Form: »Heute so – morgen froh.«
    Romano wusste, dass er mehr von Edi nicht erfahren würde. Edi hatte einen begrenzten Wortschatz, die meisten Worte vergaß er sofort wieder, weil ihm ihre Bedeutung nicht klar war. Aber alles, was sich reimte, konnte er sich merken. Manchmal reimte er sich auch selbst einen Spruch
zusammen. Ob er den Sinn der Sprüche verstand, hatte Romano noch nicht herausgefunden.
    Das Problem war, dass sich Edi mit großer Ernsthaftigkeit alles anhörte, was man ihm erzählte. Aber ob er es wirklich verstanden hatte, erfuhr man nicht. Gab man ihm eine Aufgabe, so erledigte er sie nur manchmal. Nicht, weil er nicht begriffen hatte, was man von ihm wollte, sondern weil

Weitere Kostenlose Bücher