Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
Geheiß auch Justus. Gegen Mitternacht saß nur noch ein junges Paar bei Meister Rodder am Schnapstisch. Lucia entschloss sich, zu ihnen zu gehen, doch ihre Mutter bat sie um ein kurzes Gespräch.
Dazu setzten sie sich ein Stück abseits der Zecher in die goldbraunen Sessel, und Madame Rodder sprach das Problem der Tischordnung ab morgen an. Sie empfahl Lucia, weiterhin den Platz ihres Vaters am Kopf der Tafel einzunehmen, wie bei ihrem letzten Besuch, auf die Gefahr hin, dass er dagegen vor allen Gästen lospoltert. Lucia sah die Notwendigkeit dieser Tischordnung ein, doch die Vorstellung einer lautstarken Auseinandersetzung mit ihm, noch dazu vor allen Gästen, trieb ihr Hitze ins Gesicht. Dann flog sie eine rettende Idee an, sie erinnerte ihre Mutter an den großen ovalen Zederntisch, den sie früher bei Festlichkeiten mit Gästen oft zusätzlich aufgestellt hatten.
"Richtig", begriff Madame Rodder sogleich, "an dessen Kopfende können dann Justus, du, dein Vater und ich ohne Rangordnung als Familie nebeneinander sitzen."
"Darüber wird auch Vater erleichtert sein."
Diese Vorstellung gefiel Madame Rodder weniger, wie ihr Blick verriet, weshalb Lucia ihr sagte, dafür werde er im Betrieb demnächst umso mehr von ihr einstecken müssen, dort nämlich habe er sich ihr fortan ganz und gar zu fügen.
Aus Höflichkeit wollten sich Mutter und Tochter jetzt zu den anderen gesellen, die aber erhoben sich noch vor ihnen und strebten dann mit unsicheren Schritten dem Flur zu, wobei sie Madame Rodder und Lucia einen Gutenachtgruß zulallten.
Um die Gäste konnte sich Lucia vom nächsten Morgen an kaum noch kümmern, das Werk hatte nun für sie Vorrang. Denn bis Weihnachten wollte sie Wesentliches in die Wege geleitet haben. Zunächst ließ sie sich, warm in ihren schwarzen Biberpelz gehüllt, von Gottlieb in die Stadt kutschieren.
Dort suchte sie Herrn von Lasbeck auf, ihres Großvaters und später ihr Vertreter im Werk. Sie wollte ihn zurückgewinnen. Da sie davon ausging, dass dieser distinguierte Mann ob seiner Entlassung in seinem Stolz tief verletzt sein musste, tastete sie sich bei ihm mit vorsichtigen Worten an ihr Angebot, ihn wieder einzustellen, heran. Er aber lehnte kategorisch ab. Verständlich, dachte sie und bewies Geduld. Ihr Angebot stehe, sagte sie ihm, und wenn er erlaube, frage sie nach Weihnachten noch einmal nach, ob er seine Meinung vielleicht geändert habe, sie jedenfalls würde es begrüßen, wenn er wieder ihr Stellvertreter werde. I h r Stellvertreter, hob sie hervor und nicht der ihres Vaters.
Beim Verabschieden bedankte sich Herr von Lasbeck für ihr Angebot, fügte jedoch an: "Ich würde mich zwar freuen, Euch wieder in meinem Haus empfangen zu dürfen, Fräulein de Belleville, doch mit einer Zusage auf Euer Angebot rechnet bitte nicht."
Auf diese Reaktion war Lucia gefasst, was jedoch nicht bedeutete, dass sie aufgab. Vielmehr klopfte sie gleich drauf ein Stockwerk tiefer an der Wohnungstür seiner Tochter Gritta, ihrer einst engsten Freundin.
"Lucia, mei, grüß Gott, Lucia! Dass du mich besuchen kommst", empfing Gritta sie erfreut und führte sie in ihre Wohnung.
Nachdem sich Lucia eine Zeitlang mit ihren lebhaften drei Kindern beschäftigt hatte, gab sie Gritta preis, sie habe ihrem Vater soeben seinen früheren Posten im Bellwillwerk angeboten. Das wäre ein Segen, meinte Gritta, er sei doch erst fünfzig, genau wie Lucias Vater, und wisse seit nunmehr fast einem Jahr kaum mehr, etwas mit seiner Zeit anzufangen. Sie werde auf ihn einwirken, dieses Angebot anzunehmen, versprach sie. Dafür bedankte sich Lucia und verließ das Haus wenig später mit ein wenig Hoffnung in der Brust.
Noch immer fielen aus dunklen Wolken wässrige Flocken herab, als Lucia dann vom Bellwillhaus aus zum Werk schritt, doch umso heimeliger schließlich das Bild, das sich ihr dort bot. Einträchtig lagen die flachen Lehmgebäude nebeneinander, trotzten mit ihren roten Ziegeldächern den nasskalten Angriffen von oben, und alle Schornsteine rauchten. Die Häuser luden förmlich zum Eintreten ein. Das tat Lucia dann auch, nacheinander trat sie in alle sieben Werksgebäude, um die darin Beschäftigten zu begrüßen.
Nach diesem Rundgang nahm sie in der Betriebsleitung ihren mächtigen Schreibtisch ein, dessen Platte ihr Vater gänzlich leer geräumt hatte, er hatte alles ordentlich in die Schubfächer geräumt. Ja, musste Lucia lächeln, ordentlich war er.
Zunächst ließ sie sich von Herrn Kamelau, dem Leiter der
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