Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
Seelenherz deutlicher als die Malecke, in der sie saß. Eine solch tiefe Selbstversenkung war ihr vordem noch nie gelungen. Um nun die eigentliche Malstudie zu beginnen, führte sie den Pinsel in ihrer Hand zur Palette. Wie aber dann ihr Blick auf den Malkarton fiel, vermeinte sie einer Sinnestäuschung zu erliegen - er war bereits hellviolett bemalt. Oder hatte sie nur eine Erinnerung an jenes Lichtreich vor Augen? Sie wandte für einen Moment den Blick ab und schaute dann erneut auf den Karton - es hatte sich nichts verändert, er war mit hellvioletten Linien wundersam bemalt. Da sie Ihren Sinnen noch immer nicht traute, tupfte sie vorsichtig mit dem Finger auf eine der Linien und stellte fest, dass die Farbe feucht war. Darauf musste sie es wahrhaben, sie hatte während der Versenkung gemalt oder eher, während des so auffallend langsamen Zurückkehrens zum Tagesbewusstsein. Ihre Hand hatte währenddessen, gelenkt von Seelenkraft, nach einem Pinsel gegriffen, ihn in die richtigen Farben getaucht und sodann dieses ausdrucksstarke Zeichen auf den weißen Karton gezaubert. Lucia konnte es kaum fassen - ihre erste gelungene Malübung.
Überglücklich legte sie den Pinsel beiseite und betrachtete dieses Zeichen. Zunächst erschien es ihr wie ein aus Himmelslicht bestehender Schlüssel, doch das war es nicht, es löste nur diesen Eindruck aus. Ein spirituelles Symbol? Es bestand aus einer eigentümlich geschwungenen Drei, daneben befand sich ein schleifenartiges Oval und darüber eine Art Schale. Gleichzeitig spürte sie, welch tiefgehende Magie davon ausging, die sie nun auf sich einwirken ließ.
Bis sie von nebenan wieder Leonardos Schritte vernahm, und obschon er meist aufbrauste, wenn man ihn bei seinen Reisevorbereitungen störte, wollte sie ihm das Ergebnis ihrer Malübung vorführen.
"Kannst du kurz mal kommen?", fragte sie ihn vorsichtig von der nur halb geöffneten Tür her. Er hob ärgerlich beide Hände an, und ehe er eine Verneinung aussprechen konnte, drängte sie: "Komm mal her, Leonardo. Perfavore!"
Darauf verbiss er sein Gesicht, kam aber doch. Im Labor wies sie mit der Hand auf den Malkarton: "Ich weiß ja nicht, ob das was Rechtes ist. Aber vielleicht ja schon."
"Eine Malstudie?"
"Si, soeben durchgeführt."
Leonardos Blick wurde interessiert, wobei er näher an die Staffelei trat. Dort aber erhellte sich seine Miene, wurde immer weicher, immer leuchtender, seine Augen, die unverwandt auf den Karton gerichtet waren, begannen zu glühen, und auch in Lucias Brust leuchtete es wieder warm. Geduldig wartete sie, bis sich Leonardo ihr zuwandte und dann wortlos nickte. Sie wartete noch ein wenig, ehe sie leise zu fragen wagte: "Ein magisches Symbol?"
Wieder nickte er und fügte dann hinzu: "Aber denke darüber nicht nach, Lukas, der Verstand zerstört oft dergleichen. Bewahre es im Unterbewusstsein. Und bedenke auch, dass die nächsten Studien ganz anders ausfallen können."
"Ich habe in Meran ein Atelier, darf ich dort weiter üben?"
"Das möchte ich dir sogar empfehlen. - Sag, Lukas, tritt nach solch einem Schlüsselerlebnis nicht alles andere in den Hintergrund?"
"Si. Und ob", bestätigte sie ihm.
Darauf umfasste er liebevoll ihre Hände, wünschte ihr für Meran Erfolg und zog sich wieder in sein Atelier zurück.
Lucia blieb beglückt stehen und wiederholte gedanklich - Schlüsselerlebnis. Ja, es war ihr erster Einblick in ein überirdisches Reich und gleichsam die Schwelle zur höheren Kunst.
Was sie indes nicht ahnte, wohl aber Leonardo erkannt hatte, während ihrer tiefen Selbstversenkung hatte der Funke des Genius in ihrer Brust gezündet. Der nunmehr behutsam angeregt werden will, auf dass er zur Flamme heranwächst. Diese diffizile Entwicklung stand und steht auch künftig unter Leonardos Obhut, bei der er sich weiterhin der Unterstützung seiner Muse im himmlischen Parnass gewiss sein kann.
Kapitel 7 • Ab Winterbeginn 1491
Dame mit dem Hermelin, verm. die Mätresse des Herzogs von Mailand
Unablässig fielen auf Lucias Reise wässrige Flocken, mitunter auch dicke Regentropfen vom Himmel, die die Landstraßen aufweichten, weshalb die Pferde- und Ochsengespanne, die Reiter und die Fußgänger nur schleppend vorankamen.
Erst drei Tage vor Heiligabend, bei bereits einbrechender Dunkelheit, sah Lucia endlich Meran vor sich liegen.
Die Vorderfront des Bellwillhauses wie auch der terrassenartige Empfangsplatz waren hell mit Fackeln erleuchtet, als Lucia eintraf und ihr aus dem Haus mit
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