Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
Carlo unterrichtete Salai in Geographie. Lucia staunte über Carlos Bildung, denn in der Elementarschule hatte er lediglich lesen, schreiben und die Grundelemente der Mathematik gelernt, all seine Kenntnisse darüber hinaus hatte er sich bei Bekannten erworben, und heute verfügte er über einen beachtlichen Wissensschatz. Bernardino brachte Salai Geschichte bei und Giovanni, unter ähnlichen Schwierigkeiten wie Lucia, Mathematik. Salais Lieblingsfächer waren die Naturwissenschaften, und darin wurde er spielerisch von Leonardo unterrichtet, da er aber zur Zeit in diesen Genuss nicht gelangen konnte, wunderte es nicht, dass er täglich unleidlicher wurde.
Täglich beeindruckender dagegen wurde im Atelier das Gemälde. Die beiden Mütter wirkten nun beseelt, in dem Garten erkannte man jetzt symbolträchtige Gewächse - Akazienblüten, Lilien und Wacholder - und dem Haar des Jesusknaben hatte Leonardo einen Goldton verliehen, Gold, symbolisch für göttliche Liebe. Was es an diesem Kunstwerk noch zu verbessern gab, vermochte keiner zu sagen, nur der Maestro selbst wusste es offenbar. Denn er malte mit gleichem Feuer weiter, nur bisweilen kurz unterbrochen von einer kleinen Mahlzeit, und abends verließ er das Atelier erst, wenn die Dämmerung bereits fortgeschritten war. Danach unternahm er stets einen meditativen Rundgang durch den hinteren Abschnitt des Hofgartens und begab sich anschließend, für niemanden ansprechbar, hoch in seine Wohnung.
Unterdessen hatte der ungestüme Lenzing dem Wonnemond weichen müssen, der nun die Erdenbürger mit seinen zahllosen Blüten und Düften zu verwöhnen begann.
In jenen Tagen traf Alphonse in der Bottega ein. Da Lucia ihn täglich erwartet hatte, entdeckte sie ihn sofort vom Bildhaueratelier her, wo sie gerade an ihrer Alabasterkatze arbeitete. Sie klopfte sich rasch den Staub aus dem Anzug, band das Tuch vom Kopf und lief zu ihm.
Nach ihrer Begrüßung schilderte Lucia Alphonse kurz die momentane Situation im Malatelier, wegen der er dem Maestro nicht buon giorno sagen könne. Carlo trat zu ihnen, um Lucia anzubieten, sie könne getrost schon jetzt ihren Feierabend antreten, er werde ihre Arbeit mit erledigen.
"Grazie, Carlo, wirklich nett von dir", freute sie sich und wandte sich dann zu Alphonse: "Ich besorge uns einen erfrischenden Wein aus dem Keller, und dann setzen wir uns in meine Wohnung, si?"
"Gerne", stimmte Alphonse zu, "aber kann es statt Wein auch Saft sein?"
Carlo bot sich erneut an: "Wenn du erlaubst, Lukas, besorge ich aus der Küche diesen köstlichen neuen Apfelsaft und bringe ihn euch hoch."
"Nochmals grazie, Carlo! Der Maestro scheint dich angesteckt zu haben, du bist ein Engel."
Komplimente von Lucia beglückten Carlo stets, zarte Röte überhuschte seine Wangen als er sich zum Gehen wandte.
In Lucias Wohnung wollte sie von Alphonse erfahren, weshalb er als Weinliebhaber nun Saft bevorzuge, worauf er ihr mit abgewandtem Gesicht erklärte, er vertrage Wein nicht mehr so gut.
"Inwiefern", fragte sie neckend, "ist er dir inzwischen zu umwerfend?"
Darüber lachte er nur, statt ihre Frage zu beantworten.
Während sich Lucia dann in der Schlafstube umkleidete, hörte sie Carlo die Wohnung betreten. Er unterhielt sich eine Weile mit Alphonse, und da er mitunter ein Schwatzmäulchen war, hoffte Lucia, er erzähle Alphonse nicht, dass und weshalb sie mit dem Maestro jetzt per du sei, das wollte sie Alphonse selbst beibringen. Nachdem sie Carlo dann wieder hatte gehen hören, trat sie in die Gute Stube.
"Mei, ist das nett von ihm", rief sie aus und ärgerte sich sogleich, dass ihr wieder 'mei' herausgerutscht war, das sie doch nun endgültig durch 'Mamma mia' ersetzen wollte. Carlo hatte ihnen außer dem Apfelsaft einen Korb mit Semmeln, einen irdenen Napf mit Butter, einen mit Schmalz und Schinkenstückchen auf dem Tisch serviert, deshalb hatte er sich so lange hier aufgehalten. Alphonse freute sich ebenfalls darüber: "Genau das Richtige jetzt für mich", und beide griffen herzhaft zu.
Peinlich für mich, erkannte Lucia, denn sie als Gastgeberin hätte wissen müssen, was man einem Gast nach solch einem Ritt anzubieten hat. - Die nachlässige Erziehung ihrer Mutter.
Bereits während der letzten Bissen begann Alphonse von seinem Meranbesuch zu berichten, wobei er unwillkürlich in sein vertrautes Südfranzösisch verfiel: "Deinem Herrn Vater hat es die Sprache verschlagen, wie er die Adoptionsurkunde vor Augen hatte. Selbst noch während der folgenden Tage hat er
Weitere Kostenlose Bücher