Hexenkuss
war ihr peinlich, aber es kam ihr lächerlich vor, sich jetzt darüber aufzuregen. Allerdings war an diesem Tag schon so vieles einfach lächerlich gewesen.
Meine Eltern sind tot. Ich konnte mich nicht einmal verabschieden.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Fahrer hielt und ausstieg. Sie standen vor Barbaras Haus in Pacific Heights, mit seinem Mansardendach und den eleganten weißen Amphoren voller Blumen zu beiden Seiten der Tür. Holly hatte das Haus der Davis-Chins schon immer sehr gemocht, denn es strahlte eine besänftigende Eleganz aus und war von Fröhlichkeit durchdrungen.
Michael stieg als Erster aus, dann Holly. Sie wartete unter Michaels Regenschirm auf Barbara, zitternd vor Kälte. Ihr graute davor, sich den Fragen der Leute stellen zu müssen, die sie in Barbaras Haus erwarteten. Weitere Autos parkten, und die Haustür ging auf. Ein Kollege ihres Vaters blickte betreten zu ihr heraus. Er hielt ein Glas Wein in der Hand.
»Ma'am?«, sagte der Fahrer, der Barbara die Fondtür aufhielt.
Holly blickte zu dem Fahrer auf, der mit den Schultern zuckte und sich nach vorn beugte, um in die Limousine zu schauen.
»Ma'am?«, wiederholte er, und dann drängender: »Ma'am?«
»Was ist los?«, rief Holly erschrocken und reckte den Hals, konnte aber nicht um ihn herum sehen.
Kurze Stille. Hollys Herz donnerte.
»Rufen Sie einen Krankenwagen!«, schrie der Fahrer. »Schnell.«
Ein Vogel schoss aus dem Wagen hervor und streifte Hollys Wange mit einem Flügel. Sie wich mit einem Aufschrei zurück. Woher zum Teufel war dieses Vieh gekommen? Sie starrte dem Vogel nach, der sich hoch in den Himmel schwang, kehrtmachte und dann direkt auf das Auto herabschoss wie ein Kamikaze-Pilot. Er durchbrach das geschlossene Fenster hinten auf der Beifahrerseite. Die verstärkte, verdunkelte Scheibe zersplitterte wie eine dünne Eisdecke.
Mit einem grauenhaften Kreischen brach der Vogel auf dem geborstenen Glas zusammen, und es trennte ihm den Kopf ab. Der Körper kippte nach hinten und klatschte dumpf auf den Boden; der Kopf musste irgendwo hingerollt sein. Blut spritzte aus dem Hals des Vogels, während seine Beine unter den letzten Nervenzuckungen tanzten.
Holly krümmte sich nach vorn und erbrach sich. Michael legte ihr einen Arm um die Schultern und flüsterte: »Komm, ich bringe dich ins Haus.«
Stunden später raffte Holly sich auf und schleppte sich aus Barbaras Krankenzimmer im Marin County General Hospital in ein hübsch eingerichtetes Wartezimmer. Der diensthabende Arzt war neu und hatte Holly als »Angehörige« akzeptiert. Sie hatte nicht protestiert. Sie konnte ohnehin kaum sprechen.
Als sie über die Schwelle taumelte, blickten Michael und Tante Marie-Claire auf. Sie saßen auf einem eleganten, schokofarbenen Ledersofa, und die beiden boten nebeneinander einen faszinierenden Anblick. Sie sahen ganz wie ein Paar aus, und Holly fragte sich, was da zwischen den beiden lief. Da Marie-Claire mit jemand anderem verheiratet war - so viel hatte Holly inzwischen mitbekommen -, war sie nicht sicher, ob sie das überhaupt wissen wollte.
Marie-Claire hielt einen Pappbecher in beiden Händen. Michael hatte im San Francisco Chronicle gelesen.
»Wie geht es ihr?«, fragte Hollys Tante.
Holly fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schüttelte den Kopf. Ihr war übel. »Sie wissen nicht, was sie hat. Es geht ihr wirklich nicht gut.«
Sie sagte nichts von den vielen Apparaten, die an Barbara hingen, ihre Vitalfunktionen überwachten und ihre Atmung unterstützten. Auch die Kratzer, die Barbaras Gesicht bedeckten, erwähnte sie nicht, oder die Tatsache, dass die Ärzte ihren Zustand nicht eindeutig mit der Vogelattacke in Zusammenhang bringen konnten. Oder die Krankenschwestern, die ihr mitleidige Blicke zugeworfen hatten, während sie hilflos an Barbaras Bett saß.
»Ach, Liebes.« Ihre Tante streckte die Arme nach ihr aus. Holly gehorchte. Marie-Claires Schmuck klimperte in Hollys Ohr. »Ich bleibe bei dir, Holly.« Sie seufzte und strich Holly übers Haar. »Außer, du möchtest lieber noch jemand anderen anrufen.«
»Nein«, sagte Holly zu ihr, obwohl sie sich ehrlich eingestehen musste, dass die Liste der anderen Jemande ziemlich lang war. Aber sie war zu müde und zu erschüttert, um etwas zu unternehmen.
»Möchtest du etwas trinken? Einen Tee vielleicht?«, fragte Hollys Tante und deutete auf die Getränkeautomaten an der Rückwand des Warteraums. »Probier bloß nicht den Kaffee... er ist
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