Hexenkuss
waren. Sekunden später erschien das zweite Mädchen. Sie sah ihrer glamourösen Zwillingsschwester überhaupt nicht ähnlich. Ihr Haar war kurz und mittelbraun, ihre Gesichtszüge recht angenehm, aber mehr auch nicht. Sie war nicht geschminkt und hatte Sommersprossen auf der Nase. Sie lächelte Holly strahlend an und eilte auf sie zu. Unter einem dunkelblauen T-Shirt trug sie eine karierte Schlafanzughose, und sie hatte ein winziges weißes Kätzchen auf dem Arm.
»Das ist Amanda«, sagte Tante Marie-Claire.
»Hallo.« Amanda lief zu Holly und schlang ihr den rechten Arm um die Schulter. Sie drückte Holly an sich. »Ich freue mich so, dass du da bist! Wie war euer Flug?«
»Sie hat fast die ganze Reise verschlafen«, sagte Hollys Tante belustigt. Sie wandte sich Nicole zu. »Liebes, hat jemand angerufen?«
Nicole nickte. »Ja. Ich habe dir die Liste neben das Telefon in der Küche gelegt.«
Amanda kraulte das Kätzchen am Kopf und hielt es dann Holly hin. »Sie ist für dich. Als Willkommensgeschenk. Wir haben alle eine. Wir Mädchen, meine ich. Nicole und ich. Sie ist auch ein kleines Mädchen.«
Holly blinzelte und nahm die Katze. Das weiche kleine Geschöpf wog fast gar nichts und starrte mit großen blauen Augen zu Holly auf.
»Sie heißt Bast«, bemerkte Nicole. »Ich habe den Namen ausgesucht.«
»Das ist die ägyptische Göttin der Katzen«, erklärte Amanda. »Du kannst ihr all deine Geheimnisse anvertrauen.«
Nicole schnaubte. »Sie ist taub, Mandy.«
»Sie wird Holly trotzdem verstehen«, sagte Amanda und lächelte Holly an.
»Vielen Dank.« Holly war gerührt. Sie kraulte Bast unter dem Kinn, und das Kätzchen begann zu schnurren und mit den Pfoten gegen ihre Brust zu treten.
»Ich zeige dir das Gästezimmer.« Amanda bedeutete Holly, ihr zu folgen.
Nicole blieb zurück.
Sie gingen einen langen Flur mit grau-weißer Tapete entlang. Das sah viel eleganter aus als der Eisdielen-Flur. Hollys Sandalen klapperten leise auf dem Marmorboden, und die Katze schnurrte. Amanda ging voran, bog dann rechts ab und stieg eine schlichte weiße Holztreppe hinauf.
»Das war früher die Dienstbotentreppe«, erklärte sie. »In den alten Zeiten. Wir haben keine Diener, außer mir vielleicht.« Sie lächelte halb. »Angeblich spukt es in unserem Haus. Du musst mir unbedingt sagen, was du davon hältst.«
»Das ist ein großes Haus«, bemerkte Holly, als sie den Treppenabsatz erreichten und Amanda den Flur im ersten Stock entlangging.
»Mom hat angebaut. Hast du schon mal von Michael Deveraux gehört? Er ist Architekt und hier sehr berühmt. Er hat unser Haus renoviert. Wir waren damit sogar in ein paar Zeitschriften.« Sie blieb an einer Eichentür stehen, in die das Relief einer Rose eingeschnitzt war, und legte die Hand an den Messingtürknauf. »Das ist dein Zimmer, Holly.«
Es war ganz in Weiß gehalten - weiße Spitzenvorhänge an den Bogenfenstern, eine weiße Spitzendecke auf einem Himmelbett, weiß lackierte Korbmöbel. Auf dem weißen Boden lag ein weißer Teppich.
Auf dem Nachttisch stand in einer weißen Porzellanvase eine rote Rose, der einzige Farbklecks im Raum.
»Hier drin werde ich Bast verlieren«, sagte Holly, und Amanda kicherte. Sie streichelte die Katze noch einmal liebevoll, als sie das Zimmer betraten.
»Mein Dad wird deine Koffer und so weiter hochbringen«, sagte Amanda und machte es sich auf einem der beiden Korbsessel gemütlich. Sie griff nach einem Kissen - ebenfalls weiß - und legte es sich auf den Schoß. »Wie lange bleibst du?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Holly. »Ich... ich will die Schule zu Hause fertig machen...« Sie verstummte. Es schnürte ihr die Kehle zu.
»Das mit deinen Eltern tut mir schrecklich leid.« Amanda schüttelte den Kopf. »Es ist so furchtbar, was ihnen passiert ist. Wir waren alle total überrascht. Meine Mom hatte seit, ich weiß nicht, einer Ewigkeit nichts mehr von ihrem Bruder gehört. Ich hatte ganz vergessen, dass ich überhaupt einen Onkel hatte.«
Holly nickte nur, denn sie brachte kein Wort heraus.
In diesem Moment ging die Tür auf. Tante Marie-Claire stand auf der Schwelle. »Du bist hier. Schön.« Sie lächelte Amanda zu. »Ich wusste doch, dass ich mich auf mein braves Mädchen verlassen kann. Hört mal, ich muss Nicole zum Theaterkurs bringen. Ich bin bald wieder da, in Ordnung?«
Amanda schlug die Augen nieder und atmete tief durch. Dann zupfte sie an dem Kissen herum und sagte: »Alles klar, Mom.«
»Ich gehe
Weitere Kostenlose Bücher