Hexennacht
runzelte er die Stirn. »Ich malte ein Bild, Gilla. Was ist damit geschehen?«
Sie deutete in Richtung Ecke. »Dort ist es. Möchtest du es sehen?« Ehe er sie zurückhalten konnte, war sie gegangen, es zu holen, dann lehnte sie es gegen die Wand.
Er starrte darauf und betrachtete es, wie zuvor Gillas Gesicht, mit dem Wissen, daß er die Reise, von der er zurückgekehrt war, nie mehr würde vergessen können. Es mochte eine Weile dauern, ehe er sich daran gewöhnte.
»Ein Selbstporträt«, stellte Gilla nachdenklich fest. »Ich hatte es mir noch nicht angesehen.«
Er räusperte sich nach einer Weile. Dieses Wissen gehörte nun ihnen beiden. »Nun?«
»Nun«, echote sie sanft. »Du sollst wissen, daß ich dich immer so sehe.«
Ihre Hand umschloß die seine, und er fühlte sich plötzlich so befreit und sank in die Kissen. Seine Ohren summten - nein, nur eine Fliege schwirrte im Zimmer umher.
Er überlegte einen Augenblick und fühlte sich etwas albern, dann blickte er auf das Stück Papier, das noch auf der Decke lag.
Es war leer. Lalo blickte rasch hoch und sah zu, wie die Fliege zum Spiegel flog, dort einen Augenblick schwebte und sich dann zielsicher durchs Fenster davonmachte.
Originaltitel: Minor Image
Copyright © 1983 by Diana L. Paxson
Deutsch von Susi Grixa
Hakiem
Der schwarze und der weiße Vogel
Robert Lynn Asprin
In Freistatt sind die Vögel schwarz. Angefangen von den falkenähnlichen Räubern bis zu den kleinen Samenfressern sind die einheimischen Vögel schwarz wie das Herz eines Diebes.
Hakiem, einst der führende Geschichtenerzähler der Stadt, hatte sich bisher nie Gedanken über die Farbe der Vögel gemacht. In Stunden wie diesen jedoch, da am Hof der Beysa zwischen den beysibischen Clans in ihrer eigenen, unverständlichen Sprache verhandelt wurde, blieb dem einheimischen Ratgeber der Kaiserin wenig anderes zu tun, als ungeduldig herumzusitzen und seinen Gedanken nachzuhängen. Alter Gewohnheit zufolge - die als Gast im Wilden Einhorn auch ratsam gewesen war - saß er mit dem Rücken zur Wand und freiem Blick zur Tür; einen ebenso guten Blick hatte er zufällig auch durch ein Fenster auf den Innenhof. Das Treiben der Vögel erweckte seine Aufmerksamkeit. Außer ihrem Gold und ihren Schlangen hatten die Beysiber auch eine beachtliche Schar seßhafter Seevögel mitgebracht, die sie Beyarl nannten - so, wie sie ihre Schlangen Beynit nannten, ihre Blumen Beyosa und ihre Göttin Mutter Bey. Tag für Tag warfen sie für ihre gefiederten Freunde Brotreste und Tischabfälle auf den Innenhof. Die Freistätter Vögel, die keinen Unterschied zwischen Palasthof und Hinterhof im Labyrinth machten, schwärmten zu diesem großzügigen Festmahl herbei und kämpften heftig untereinander - obwohl die Beysiber dafür sorgten, daß es genug für alle gab. Einige schwarze Vögel krächzten oder kreischten drohend, um Neuankömmlinge zu vertreiben, während andere habgierig Artgenossen verfolgten, wenn sie einen Leckerbissen davonschleppen wollten, der zu groß war, um ihn sofort zu verspeisen.
Zwei der weißen Beyarl - die Vögel, für die das Futter eigentlich bestimmt war - ließen sich in majestätischem Flug auf den Innenhof hinab. Sofort war jeglicher Streit unter den schwarzen Vögel vergessen; sie erhoben sich wie eine dunkle Wolke, um die Eindringlinge zu vertreiben. Nein, nicht alle, wie der Geschichtenerzähler bemerkte. Ein paar der klügeren blieben. Sie nutzten die Ablenkung ihrer Kameraden und Rivalen und verschlangen hastig die köstlichsten Brocken.
Hakiem lächelte. In Freistatt benahmen sich, von den Edelmännern bis den Dieben, alle gleich - sogar die Vögel.
Aus den Augenwinkeln fiel ihm etwas Weißes auf dem gegenüberliegenden Dach auf: Ein Beyarl hockte neben einem schwarzen Vogel, der gut um die Hälfte größer war als er. Hin und wieder flatterten die beiden mit den Flügeln, und des öfteren nickten sie mit den Köpfen, doch keiner der beiden flog weg. Der Geschichtenerzähler war kein Vogelkenner, aber es erschien ihm unwahrscheinlich, daß sich die beiden paaren konnten - doch ganz gewiß kämpften sie nicht. Vielleicht .
»Hakiem!«
Er zuckte zusammen und bemerkte, daß die Beysiber gerade den Audienzsaal verließen. Shupansea, die Beysa des Beysib\1\2chen Reichs, hatte sich aus ihrer liegenden Position - in der sie traditionsgemäß ihre Amtshandlungen vornahm - auf einen Ellbogen gestützt und blickte ihn mit den bernsteinfarbenen starren Augen an. Sie war jung, Mitte
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