Hexennacht
und hierher
gebracht.
»Was willst du jetzt tun?«, fragte die Stimme. Sie war
eindeutig in seinem Kopf.
»Abwarten.«
»Worauf willst du warten?«
»Darauf, dass ich hier herauskomme.«
»Hast du es denn immer noch nicht begriffen? Es gibt zwar ein
Ziel, aber keinen Weg. Für dich nicht.«
»Man wird mir den Prozess machen.«
»Dein Prozess ist schon zu Ende.«
»Aber ich habe doch noch gar nicht…«
»Dein Prozess ist schon zu Ende!« Dann lachte die
Stimme. Jetzt war sie einige Schritte von ihm entfernt. »Er ist
vor einer Minute zu Ende gegangen.«
»Hatte ich eine echte Chance?«, fragte Arved.
»Natürlich. Aber du hast sie vertan.«
»Was hätte ich denn tun sollen?«
»Das kannst nur du wissen. Ich glaube, du hättest
aufstehen und Tante Adeltrauts Zimmer verlassen sollen. Dann
wärest du frei gewesen.«
»Aber das ist doch schon vor so langer Zeit passiert«,
wehrte sich Arved.
»Nein. Es ist vor einer Minute passiert.«
Arved wünschte sich den Lichtpunkt zurück, aber alles
blieb schwarz. Es war zum Verzweifeln. Er musste weg von hier. Er war
nicht rechtmäßig hier. Er hatte eine Aufgabe, aber er
konnte sich nicht mehr an sie erinnern.
»Wenn man lange hier ist, verschwimmt alles«, sagte die
Stimme. »Man weiß nicht mehr, was man tun kann und
soll.«
Arved machte ein paar Schritte auf die Stimme zu. Sie schien sich
zurückzuziehen. »Mach’s gut«, sagte sie. Dann
setzte vollkommene Stille ein.
Arved rief noch einige Male nach der Stimme. Sie meldete sich
nicht mehr. Er machte tastend weitere Schritte, hierhin, dorthin,
nirgendwo traf er auf jemanden. Er war allein. Allein mit sich.
Er steckte mitten im Labyrinth und wusste, dass es kein Ziel darin
gab, sondern nur mäandernde Gänge, die entweder ins Nichts
oder in sich selbst zurückführten.
Magdalenas Bild erschien vor seinem inneren Auge. Nicht so, wie er
sie in dem unheimlichen Gasthof gesehen hatte, sondern so, wie sie am
Tag der Beerdigung gewesen war. Blass und schön. Voller Trauer
und so zart, dass man am liebsten eine gläserne Glocke über
sie gestülpt hätte. Doch ein anderes Bild lagerte sich
über das ihre.
Das Bild der Lioba Heiligmann mit ihren von Silber durchzogenen
Haaren, ihren altmodischen Kleidern, ihrem schönen Lächeln,
ihrem sanften Duft und ihren klobigen Wanderstiefeln. Er musste ihr
doch berichten, was geschehen war. Er musste ihr erzählen von
den… von den…
Arved setzte sich auf den kalten Steinboden und rieb sich die
Schläfen.
Lioba.
Er musste… mit ihr reden…
Eine bleierne Müdigkeit überkam ihn. Er wusste nicht, ob
er ihr nachgeben oder gegen sie ankämpfen sollte. Wieder eine
Entscheidung, und wer konnte schon sagen, welche Auswirkungen sie
hatte? Er entschloss sich zu kämpfen. Er wünschte sich den
Lichtpunkt zurück, ohne zu wissen, was er tun sollte, wenn er
wirklich kam.
Und er kam.
Ganz hinten, in unmöglicher Entfernung, weit jenseits jedes
vorstellbaren Raumes begann das Glimmen. Er stand rasch auf und
machte einige Schritte darauf zu. Bald rannte er. Er hatte keine
Angst mehr, gegen jemanden oder etwas zu stoßen. Es gab
niemanden, es gab nichts. Das Licht flog abermals auf ihn zu. Schon
erwartete er, wieder seine Tante zu sehen.
Aber er sah etwas anderes.
Er sah sein eigenes Haus. Das Schlafzimmer der Lydia Vonnegut, in
dem nun ein Teil seiner Reliquiensammlung untergebracht war. Er sah
sich vor dem Bett der Sterbenden sitzen und mit ihr reden. Und er
hörte sich Dinge sagen, die er nicht mehr verstand. Er bemerkte,
wie sie ihn in ihren Bann zog. Und diesmal ließ er es nicht
zu.
»Ja, ich bin eine Hexe«, kicherte die alte Frau.
»Jeder in Trier hält mich für eine, wussten Sie das
nicht? Und wo Rauch ist, da ist auch Feuer.«
Er stand auf, reichte ihr die Hand und sagte: »Ich
fürchte, ich kann für Ihre Seele nur noch beten, Frau
Vonnegut. Ich werde Sie in meine Gebete einschließen.«
»Wollen Sie wieder beten?«, fragte Lydia Vonnegut
enttäuscht und gehässig zugleich. »Ich dachte, ich
hätte Sie endgültig von Ihrer Dummheit kuriert.«
»Es ist keine Dummheit. Ich nehme Ihnen nicht Ihren Glauben,
also sollten sie auch nicht versuchen, mir den meinen zu
nehmen.«
»Ich will Ihnen das Leben doch nur leichter machen«,
sagte Lydia Vonnegut und lachte schrill. »Seien Sie endlich das,
was jeder ist: ein gieriger Fleischklumpen.«
»Ich wäre es, wenn ich Ihnen glauben würde, so aber
bin ich ein Mensch. Guten Tag.«
Wortlos verließ er das Schlafzimmer,
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