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Hexennacht

Hexennacht

Titel: Hexennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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ihm kaum über die
Lippen, aber es war die Voraussetzung für die tägliche
Fütterung.
    »Ich habe gehört, du willst nach Trier gehen. Du willst
studieren. Theologie.« Das Wort kam wie Auswurf aus ihrem
Mund.
    »Ja.« Arved saß auf der Kante des Sessels, wie
immer, und war höchst angespannt, wie immer.
    »Glaubst du, das ist richtig?«
    Leise: »Ja.«
    »Dann glaubst du also, es ist richtig, deine arme, alte
Mutter allein hier zurückzulassen, um etwas zu studieren, das es
gar nicht gibt.«
    »Es gibt es, Mama.« Er kam sich vor wie ein kleiner
Junge. Es reichte. Er musste fort von hier. Er musste endlich an
etwas glauben. Er brauchte ein klares Korsett. Das Theologiestudium
war genau das Richtige, das wusste er.
    »Dann geh deinen Weg und lass mich ruhig hier zurück.
Lass mich hier in Einsamkeit sterben. Ich will deinem Glück
nicht im Wege stehen.«
    »So darfst du das nicht sagen, Mama…«
    »Ach, nicht?« Tante Adeltraut schaute ihn über
ihren Teller hinweg an. »Ist es etwa nicht die Wahrheit? Oder
kannst du die Wahrheit nur nicht ertragen? Nein, geh ruhig. Aber
glaube nicht, dass ich deine Verrücktheiten unterstütze.
Keinen Pfennig wirst du von mir bekommen.«
    »Ja, Mama.« Was für eine Gemeinheit! Bloß
weg. Immerhin gab es Fördermittel von öffentlicher Stelle
und er konnte für seinen Lebensunterhalt arbeiten. Bestimmt
würde er etwas finden. Er hatte diese alte Vettel nicht
nötig.
    »Hier war für dich alles geregelt. Aber jetzt gehst du
in eine Welt hinaus, für die du nicht gemacht bist. Du bist ein
viel zu guter Junge.« Sie schob sich ein großes,
weißliches Stück Kuchen in den faltigen Mund. »Du
verstehst die Welt doch gar nicht.«
    Woran du schuld bist, wollte er gerade sagen, doch er bezwang sich
und seine Wut.
    Während sie kaute, redete sie schmatzend und nuschelnd
weiter. »Du bist der Welt doch gar nicht gewachsen. Wenn ich
nicht alles für dich regele, gehst du unter. Du kennst die
einfachsten Regeln nicht. Für dich ist alles ein Labyrinth. Sei
froh, dass es mich gibt, die dich hindurchführt.«
    »Ich muss den Weg jetzt allein gehen«, sagte Arved
gefasst und schlug die Hände um die Knie.
    Seine Tante schaute ihn groß an. Dann schnappte sie nach
Luft. Sie hustete. Sie schüttelte den Kopf. Sie schluckte. Sie
brummte. Der Teller fiel ihr aus den klauenartigen Händen. Die
pappige Sahnecreme platschte auf den Teppich; die Gabel fiel hinein
und blieb in der Masse stecken. Tante Adeltrauts Kopf sackte nach
hinten. Sie hörte auf zu röcheln; die glasigen Augen
starrten blind zur Stuckdecke hoch.
    Sie war der einzige Mensch, den er bisher hatte sterben sehen.
Zuerst hatte er nicht geglaubt, dass sie tot war. Und dann kamen die
Gefühle wie eine Sturmflut. Schrecken wechselte mit
Erleichterung ab, Trauer mit Freude. Er schämte sich für
seine widerstreitenden Gefühle. Als Priester hatte er viele
Messen für seine Tante gelesen, um dieses Gefühl
allmählich zu ersticken. Er war ihm nie ganz gelungen.
    Tante Adeltraut hatte einen Schlaganfall erlitten und war daran
gestorben. Arved hatte nie Gewissheit darüber erlangt, ob sie
sich über seine letzte Bemerkung so aufgeregt hatte oder ob ihr
plötzlicher Tod zu diesem Zeitpunkt ein Zufall gewesen war. Sie
hatte ihr bescheidenes Vermögen einem Waisenhaus vermacht und
Arved ausdrücklich enterbt. Genau das hatte Arved aber von
seiner Tante und etwaigen Gefühlen der Abhängigkeit von ihr
noch über den Tod hinaus befreit. Er beantragte Waisengeld,
erhielt Bafög und studierte. Erklärungen für ihr
Verhalten, ihre Härte und doch auch ihre Sehnsucht nach seiner
Nähe suchte er nicht mehr. Doch stets blieb in ihm das
Gefühl, er würde die Menschen und ihre Handlungen nicht
durchschauen, wohl aber Gottes Wort, Gottes Gesetze. Das war sein
Halt, bis er mehr über die Machenschaften seiner geistlichen
Kollegen erfuhr und bis er Lydia Vonnegut traf.
    Das Zimmer der Tante zog sich in den Lichtfleck zurück;
dieser verdämmerte und ließ Arved in der Finsternis allein
zurück.
    Nicht ganz allein.
    »Hat es dir gefallen?«
    Er sagte nichts darauf.
    »Wer kann schon sagen, welche Handlung welche Auswirkung
herbeiruft?«, säuselte die Stimme.
    Alles, was ich tue, ruft irgendwelche Reaktionen hervor, dachte
Arved. Aber ich kann nie wissen, welche Reaktionen das sind. Ich habe
versucht, mir Sicherheit zu verschaffen. Ich habe sie mir selbst
wieder genommen – ein Akt der Befreiung. Aber er hat mich in die
völlige Verwirrung gestürzt –

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