Hexennacht
kommst du auf den Gedanken, dass es bei allen gleich
sein sollte?«, fragte die Stimme mit ehrlichem Interesse.
»Weil eine solche Situation für jedermann
unerträglich ist«, entgegnete Arved.
»Für dich ist sie es, das stimmt. Wenn du keine
Begrenzungen mehr siehst, bekommst du Angst. Schreckliche Angst. Wenn
du in eine Lage wie diese gerätst, die du nicht verstehst, fehlt
dir plötzlich jeder Halt.«
Wie damals.
Arved wusste nicht, ob die letzten Worte von der Stimme oder aus
ihm selbst kamen.
Wie damals.
So viele Erinnerungen stürzten plötzlich auf ihn ein, so
viel vergessen Geglaubtes. Verschwommene Erinnerungen an seine Eltern
und daran, wie es war, als sie plötzlich nicht mehr da waren.
Als er zu seiner Tante gebracht wurde, als man ihm sagte, seine
Eltern kämen nie wieder, sie hätten einen Autounfall gehabt
und seien jetzt beim lieben Gott. Er wusste nicht mehr, wie alt er
damals gewesen war. Drei Jahre, vielleicht vier oder fünf, aber
nicht älter. Noch nicht in der Schule.
Die Tante hatte kaum gewusst, was sie mit ihm anfangen sollte. Er
musste Mama zu ihr sagen. Tante Adeltraut wohnte allein in einer
riesigen Wohnung im Kölner Stadtteil Lindenthal. Arved bekam
sein eigenes Zimmer, in dem es muffig roch – ein Geruch, den er
erst aus der Nase bekam, als er zum Studium nach Trier zog. Tante
Adeltraut war nie verheiratet gewesen und bezog ihre Vorstellungen
über Kindererziehung aus der Regenbogenpresse sowie aus
Liebesromanen. Übertriebene Fürsorge wechselte mit
drakonischen Strafen, deren Grund Arved nie einsehen konnte. Wenn er
einmal ein Handtuch nicht gerade aufgehängt hatte, setzte es
Prügel, aber wenn er aus Verzweiflung in seinem Zimmer Dinge
umwarf und gegen die Wand schleuderte, bekam er Streicheleinheiten
und Schokolade. Doch es war nicht immer dasselbe. Manchmal konnte es
auch vorkommen, dass er mit Nichtachtung gestraft oder ein schiefes
Handtuch mit einem Lächeln bedacht wurde. Und geschlagen wurde,
wenn er gerechten Zorn fühlte. Nie wusste er, was er wirklich
tun sollte, um seine Tante zufrieden zu stellen.
In der Dunkelheit der Untersuchungszelle erinnerte sich Arved
daran, dass er einmal, als er schon in die Grundschule ging, mit
zerrissener Kleidung zu seiner Tante gekommen war. Er hatte es nie
über sich bringen können, ihre Wohnung als sein Zuhause zu
bezeichnen. Er schellte, und als Tante Adeltraut ihm öffnete und
wie immer auf dem Treppenabsatz stand und ihn mit ausgebreiteten
Armen erwartete, wechselte ihr Gesichtsausdruck von Erstaunen
über Bestürzung, Mitleid und Sorge zu Wut und Zorn.
»Komm herein, kleines Lämmlein«, sagte sie mit
erstickter Stimme, und als er kaum im Flur stand, schlug sie ihn
schon mit ihren harten, knochigen Händen windelweich. Er kam
erst gar nicht dazu, zu erzählen, wie die Klassenkameraden nach
der vierten Stunde über ihn hergefallen waren und ihn
verdroschen hatten. Schon immer hatten seine Klassenkameraden ihm
Streiche gespielt, doch so schlimm wie an jenem Tag war es noch nie
gewesen. Zwei Jungen hatten ihn festgehalten und drei andere hatten
auf ihn eingeschlagen. Und dafür erhielt er nun auch noch
Prügel von seiner Tante. Er verstand die Welt nicht mehr.
Dieses Erlebnis hatte dazu geführt, dass er sich noch mehr in
sich zurückzog. Die Handlungen seiner Tante blieben für ihn
weiter unverständlich.
»Siehst du den Weg?«, fragte die Stimme sanft. Nun
schien sie schon fast in seinem Kopf zu stecken. »Dort hinten.
Sieh genau hin. Jeder von uns hat seinen Weg.«
Ganz fern durchstach plötzlich ein gleißend heller
Punkt die Finsternis, ohne indes Arveds Umgebung zu erhellen.
»Geh hin.«
Er ging auf den Punkt zu, der rasch größer wurde.
Obwohl er befürchtet hatte, dass er gegen Mitgefangene
stoßen würde, berührte er doch niemanden. Vielleicht
hatte die Stimme gelogen; vielleicht waren sie und Arved die einzigen
Insassen.
Der Punkt flog auf ihn zu, vergrößerte sich und wurde
zu einem Raum, den er nur zu gut kannte. Er saß wieder im
Wohnzimmer seiner Tante auf dem Sessel mit der Kuhle und dem
abgeschabten Brokatbezug, und ihm gegenüber aß Tante
Adeltraut ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Wegen
irgendeiner Verfehlung, von der die Tante nur in Andeutungen
gesprochen hatte, war Arved vom Genuss des Kuchens ausgeschlossen
worden.
»Nun, mein Sohn«, sagte Tante Adeltraut, immer nannte
sie ihn ihren Sohn, »nun, mein Sohn, ich glaube, du hast mir
etwas zu erklären.«
»Was, Mama?« Das letzte Wort ging
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