Hexennacht
hörte auf zu schreiben. »Zu spät. Ich
habe den Vermerk schon gemacht. Was in den Akten ist, ist in der
Welt, sagen die Verwaltungsfachleute. Recht haben sie. Jetzt kann ich
natürlich nicht mehr viel für Sie tun. Schade. Ich war mir
sicher gewesen, dass ich doch noch einen Freispruch oder wenigstens
eine sehr milde Strafe für Sie herausschlagen kann. Aber durch
Ihr Geständnis… Lopoz und Karagaz! Kommt her und
unterschreibt als Zeugen.«
Die beiden Polizisten umrundeten den gläsernen Schreibtisch
im Gleichschritt und unterzeichneten das Dokument, das der Löwe
gerade aufgesetzt hatte.
Jetzt war die beste Gelegenheit! Ohne lange nachzudenken, drehte
sich Arved um und rannte zur Tür. Sie war nicht verschlossen. Er
riss sie auf, huschte in den Korridor und lief los.
»Halt!«, hörte er hinter sich die Stimme des
Löwen. Rasende Schritte kündeten davon, dass die Verfolgung
aufgenommen wurde.
Arved lief über die Neonröhren und erkannte, dass sie
Pfeile trugen. Pfeile, die in die Richtung wiesen, in die er lief. Er
dankte den modernen Bauvorschriften, die einen gut gekennzeichneten
Fluchtweg zwingend vorschrieben.
Er wunderte sich, wie schnell er laufen konnte. Die beiden
Polizisten waren bereits abgeschlagen. Nicht einmal Seitenstechen
verspürte er. Ein nie gekanntes Hochgefühl
durchströmte ihn. Der Korridor machte eine Biegung. Hinter ihr
waren dieselben gleichförmigen Türen, dieselben
gleichförmigen Neonlampen, dieselben gleichförmigen
Wände und glasdurchsetzten Böden. Bald blieb er stehen. Er
hörte seine Verfolger nicht mehr. Rasch schaute er den Korridor
hinauf und hinunter. Kein Ausgang in Sicht. Arved ging weiter voran,
bis zur nächsten Biegung. Auch hier bot sich ihm wieder das
gleiche Bild. Er lief den Gang entlang – bis zur nächsten
Biegung.
Hinter ihr standen die beiden Polizisten; sie hatten die
Hände lässig in den Pistolengürtel gesteckt.
Arved hielt die Luft an und blieb stehen. Er drehte sich um und
rannte los. Die Polizisten folgten ihm – langsam, siegessicher.
Das Hochgefühl zerstob wie eine Wolke aus Fliegen auf
verwesendem Fleisch. Er machte vor einer der Türen Halt,
rüttelte an der Klinke, sie war abgeschlossen. Die Polizisten
bogen um die Ecke. Der Schnauzbart schwitzte, der Tätowierte
tänzelte beinahe; er schien über den Boden zu schweben.
Die nächste Tür. Abgeschlossen. Weiter.
Die nächste Biegung. Wieder ein Gang. Arved wusste nicht
mehr, um wie viele Ecken er inzwischen gebogen waren. Eigentlich
hätte er schon längst wieder am Beginn seiner Flucht
angekommen sein müssen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Da stand eine Tür offen. Er lief einfach in den Raum hinein.
Die Tür fiel hinter ihm zu, ohne dass er jemanden gesehen
hätte. Er stand im Dunkeln. In vollkommener Dunkelheit. Er
konnte die Hand vor Augen nicht sehen; es war, als sei er
plötzlich erblindet. Wieder einmal von grellem Licht in die
Dunkelheit. Wieder einmal ohne jede Orientierung und an einem Ort,
von dem er nicht die geringste räumliche Vorstellung hatte.
»Ich grüße dich«, sagte eine Stimme ganz
dicht neben ihm.
27. Kapitel
»Wer bist du?«, fragte Arved verdutzt. »Wo bin
ich?«
»Immer der Reihe nach«, antwortete die Stimme. Sie war
wohl männlich, klang aber sehr jung – oder es war eine Frau
mit einer sehr tiefen Stimme. Arved rieb sich die Augen, aber auch
danach konnte er nicht mehr erkennen.
»Zwei Fragen schon nach so kurzer Zeit«, sagte die
Stimme, die inzwischen lautlos näher gekommen war. So nahe, dass
Arved zusammenzuckte. Der Sprecher – oder die Sprecherin –
musste unmittelbar neben ihm stehen. »Fangen wir mit der letzten
an. Du bist in Untersuchungshaft – genau wie ich. Wir sind
Zwillinge, wir beide.« Die Stimme kicherte und fuhr fort:
»Diese Zellen sind ein wahrer Fluch. Manche von uns sitzen schon
sehr lange ohne Prozess hier.«
»Manche?«, entfuhr es Arved. »Sind denn noch mehr
hier?«
»Oh, sehr viele. Wenn du nur einen Schritt machst, wird du
über einen von uns stolpern. Bleib also dort, wo du bist. Nicht
alle sind dir so wohlgesonnen wie ich.«
»Wird es nie hell?«
»Nie.«
»Und wie soll man sich orientieren?«
»Das ist jedem selbst überlassen.«
»Aber das geht doch nicht! Das ist
unerträglich.«
»Für dich: ja.«
»Für die anderen nicht?«, fragte Arved und kratzte
sich am Kinn. Er fragte sich, wie weit er von seinen Mitgefangenen
entfernt war. Er hörte kein Atmen, keine Bewegung, nichts.
»Warum
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