Hexennacht
und zwang sie, immer wieder die Augen zu
schließen.
Der Himmel war so grau wie die Gebäude und der Rauch. Das
Hochhaus, auf dessen Dach sie standen, trug unzählige Erker,
Türmchen und Giebel und wirkte beinahe wie ein aus allen
Proportionen geratenes Schloss. Sogar Wasserspeier aus Beton waren
etwas tiefer unten zu erkennen. Das Flachdach hingegen passte
überhaupt nicht zu diesem Stil. Vielleicht sollte es noch ein
Spitzdach aus Schieferplatten erhalten. Doch vermutlich würde es
nie so weit kommen, denn kein einziges der unzähligen
Häuser, die Arved von seinem luftigen Standort aus sah, war
endgültig fertig gestellt, keines war bewohnt.
Dieses Häusermeer machte jede Stadt der Welt klein. Immer
wieder stiegen Rauchwolken auf, mal näher, mal weiter, und immer
wieder dröhnte lautes oder leiseres Rumpeln zu ihnen herauf.
Und immer wieder schwankte und erzitterte das Hochhaus, auf dem
sie standen. Wie lange mochte es noch halten?
»Wo ist er? Wo ist er nur? Wir haben ihn doch ganz fest
gehalten!«, keuchte Magdalena und lief auf der
geländerlosen Plattform herum.
»Sei vorsichtig!«, rief Arved ihr zu. Der Wind verwehte
seine Stimme. Magdalena lief gefährlich nahe an den Rand des
Daches und spähte hinunter. Arved blieb fast das Herz stehen,
als er sah, wie sie am Abgrund balancierte.
Plötzlich drehte sie sich um und winkte ihn aufgeregt heran.
»Da unten ist Jürgen!«, schrie sie ihm durch den
tosenden Wind zu. Arved ging vorsichtig zu ihr hinüber. Sie
schaute wieder über den Rand.
»Leg dich!«, rief er. »Der Wind könnte dich
erfassen!« Zu seinem Erstaunen gehorchte sie. Er ging ebenfalls
in die Hocke, als er den Abgrund beinahe erreicht hatte, legte sich
flach auf den Beton und robbte sich an das Bodenlose heran. In der
Ferne stiegen weit voneinander entfernt zwei Rauchwolken gleichzeitig
auf. Sie wirkten wie Himmelssäulen, die sich mit dem Grau der
Wolken verbanden.
Arved schaute über den Rand.
Dort unten, viele hundert Meter tiefer, beinahe schien es ihm wie
Kilometer, stand jemand auf einem Erker und hatte die Arme in
flehender Geste gehoben. Seine schwarzen Haare wehten im Wind. Arved
konnte nicht sagen, ob das wirklich Jürgen Meisen war, aber
seine Frau schien davon überzeugt zu sein.
»Jürgen!«, rief sie, doch die Gestalt dort unten
reagierte nicht. Vermutlich hörte sie den Ruf gar nicht.
Magdalena schaute Arved von der Seite an. »Wir müssen
hinunter. Wir müssen ihn da fortholen.«
»Wie denn? Hier scheint es keine Treppe nach unten zu
geben«, wandte Arved ein.
»Ich habe eine Nottreppe außen an einer Wand gesehen.
Dort drüben.« Sie zeigte in die gegenüber liegende
Richtung. Vorsichtig robbten sie vom Abgrund zurück, sprangen
auf und liefen an den jenseitigen Rand.
Tatsächlich kamen schmale Stufen ohne jedes Geländer
dort hoch und hörten etwa einen Meter unter dem Dach auf.
Magdalena überlegte nicht lange und setzte sich auf den Rand.
Eine schwere Bö erfasste und schüttelte sie. Arved schlang
ihr die Arme um den Brustkorb und stemmte sich selbst gegen den Wind,
der ihm den Atem aus der Lunge presste. Als die Luft wieder etwas
ruhiger war, machte sich Magdalena mit einer schlangenartigen
Bewegung von Arved frei und sprang auf die Treppe. Gegen die Wand
gedrückt, lief sie nach unten, bis sie in einem tieferen
Stockwerk verschwand.
Arved zögerte kurz, doch dann eilte er ihr nach. Vorsichtig
tastete er sich Stufe für Stufe nach unten. Der Wind zauste
seine Haare und warf sie ihm immer wieder ins Gesicht, und seine
Jacke flatterte laut. Einmal schaute er hinunter. Er konnte die
Straße kaum erkennen, in solch gewaltiger Höhe schwebte
er. Er hatte den Eindruck, dass sich dort unten gar nichts befand.
Endlich kam er an eine Türöffnung, durch die Magdalena wohl
verschwunden war. Er huschte hindurch und war froh, dem ewigen Wind
entkommen zu sein.
Von hier aus gab es ein Treppenhaus – zwar auch ohne
Geländer, aber breit und ungefährlich. Er hörte
Magdalenas Schritte weit unter sich und bemühte sich, sie
einzuholen. Mehrfach rief er nach ihr, aber sie beachtete ihn nicht
mehr. Sie hatte nur noch Augen und Ohren für ihren Mann.
Der Weg nach unten. Arved folgte nur dem Getrappel von Magdalenas
Schritten. Plötzlich brach es ab. Arved hatte Angst, es
könne ihr etwas zugestoßen sein. Er sprang noch schneller
die Stufen hinunter. Beinahe wäre er vorbeigelaufen.
Als er kurz nach rechts schaute, sah er sie plötzlich.
Magdalena stand in einer Öffnung in
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