Hexennacht
befand.
»Sie können gehen, wenn Sie wollen«, sagte
Magdalena Meisen.
Arved stand unschlüssig vor dem Sofa und schaute sie
eingehend an. »Es tut mir Leid, wenn ich aufdringlich erscheine,
aber ich glaube, das ist keine gute Idee. Vielleicht hilft es Ihnen,
wenn Sie darüber sprechen.«
»Sie reden wie ein Priester.«
Beinahe hätte Arved gelächelt. Es wäre ein
wehmütiges Lächeln gewesen. »Ich bin Priester«,
sagte er nur.
Frau Meisen riss die Augen auf. »Ein Priester mit einem
Bentley? Sie wollen mich wohl aufziehen. Es fehlt noch, dass Sie in
einem Schloss wohnen.«
Gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt, dachte Arved. Er
überlegte, ob er vor dieser fremden Frau seine Lebensgeschichte
ausbreiten sollte. Vielleicht lenkte es sie ein wenig ab. Also setzte
er sich in einen der Bauhaus-Sessel und berichtete mit knappen Worten
von seinen öffentlich verkündeten Glaubenszweifeln und
seiner anschließenden Suspendierung sowie der
überraschenden Erbschaft.
Frau Meisen hörte zunächst interessiert zu, doch
irgendwann schaute sie ins Leere. Schließlich sagte sie mit
einer tonlosen Stimme, die aus einer anderen Seinsebene zu kommen
schien: »Er ist tot.«
Arved nickte. Welchen Trost sollte er dieser Frau spenden? Den auf
ein Wiedersehen im Jenseits? Es gab kein solches. Den auf einen
barmherzigen Gott? Es gab keinen solchen. Es gab nur den ewigen
Kreislauf des Werdens und Vergehens, das Aufflackern und
Erlöschen von Bewusstsein, eine Sekunde unbedeutenden Lebens
inmitten eines blinden Universums. Wo lag darin Trost?
»Man hat mich nicht zu ihm gelassen.«
Arved sah sie erstaunt an. »Woran ist er gestorben? Waren es
diese Trauben?«
Frau Meisen zuckte die Achseln. »Das haben mir die Ärzte
nicht gesagt.«
»Sie werden bestimmt eine Obduktion machen«, meinte
Arved leise und wie von fern.
Die junge Frau brach in Tränen aus. Schluchzer durchzuckten
sie. »Manchmal… manchmal habe ich ihn in die Hölle
gewünscht«, sagte sie gepresst. »Bin ich schuld an der
ganzen Sache?«
Am liebsten hätte Arved sie wieder in den Arm genommen, aber
er schreckte davor zurück. Nicht hier, nicht in diesem Zimmer.
In der Gegenwart junger Frauen war er so unbeholfen und hilflos. Man
bildet uns aus, damit wir im Leid helfen, dachte er, aber man
verwehrt uns die tiefsten Gefühle. Wie können wir
mitleiden, wenn wir nicht mitlieben dürfen? »Nein«,
sagte er sowohl auf Magdalena Meisens Frage als auch auf seine
eigenen Gedanken. Er fasste sich und wiederholte: »Nein.«
Dann sah er sie an. »Was auch immer zwischen Ihnen beiden war:
Sie tragen keine Schuld an seinem Tod.«
»Wir haben uns so geliebt – früher…« Ihre
Stimme verwehte zwischen den teuren Möbeln. »Er hatte so
viele Ideale.
Er ist… war Architekt. Angestellt. Er wollte bald ein eigenes
Büro aufmachen und wir hatten vor, uns ein Haus zu kaufen. Hier
hat es ihm nicht gefallen. ›Die Häuser beleidigen meinen
Architektenblick‹, hat er immer gesagt. Dabei finde ich es sehr
schön hier. Der Ahorn draußen vor unserem Balkon ist im
Sommer voller Singvögel. Jürgen hatte keinen Sinn
dafür. Er hat sich von seiner Arbeit auffressen lassen. In der
letzten Zeit war er so gereizt. Ich habe es kaum noch ausgehalten und
daher hatte ich vor, für eine gewisse Zeit zu meiner Schwester
nach Italien zu gehen. Ihr Mann hat sie mit zwei kleinen Kindern
sitzen lassen und ich möchte ihr so gern helfen. Jürgen
wollte nichts davon wissen.«
Wie oft hatte Arved schon solche Geschichten gehört:
Geschichten von Pfarrkindern, die sich auseinander gelebt hatten, die
sich nichts mehr zu sagen hatten, deren Gefühle nie aufrichtig
gewesen waren. Und er selbst kannte all das nur vom Hörensagen.
Immer war er der Falsche gewesen, hatte nicht wirklich mitreden und
noch weniger helfen können. Es war bei Floskeln geblieben, bei
leeren Worten, die Verständnis vortäuschen sollten. Er war
sich jedes Mal vorgekommen wie ein Blinder, dem man die Farben
erklärt.
»Was passiert ist, ist schrecklich«, sagte er. »Es
ist wichtig, dass Sie nun die schönen gemeinsamen Zeiten in
Erinnerung behalten. Sie werden sehen, dass sie die weniger guten
überlagern.« Hohles Gerede. Er wusste nicht, wie es ist,
den Lebenspartner zu verlieren. Würde der Schmerz je nachlassen,
auch wenn die Beziehung nicht vollkommen harmonisch war? Er hatte
Überlebende gesehen, die an ihrer Situation zerbrochen waren,
die sich umbrachten, die in psychiatrischen Anstalten geendet waren,
aber er
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