Hexennacht
recht kahlen
Ahorn, aber er sah nichts als die Amsel – eine ziemlich
große Amsel. Er sah wieder zu Frau Meisen herüber, die
sich inzwischen auf die Handknöchel biss, um nicht laut
aufzuschreien.
Besorgt fragte Arved: »Was ist los?«
Anstatt zu antworten, deutete sie nur mit dem Kopf nach
draußen. »Da sitzt eine Amsel im Baum«, sagte er
leise.
Frau Meisen ließ die Hand sinken und stieß seufzend
die Luft aus. »Es ist weg«, sagte sie.
»Was war es?«
»Ich hatte geglaubt… ach, nichts.«
»Sie können es mir ruhig sagen.«
»Ich… für kurze Zeit hatte ich geglaubt, in dem
schönen Baum etwas hocken zu sehen. Etwas, das viel
größer als ein Vogel war. Etwas Schwarzes. Es wirkte
so… unheimlich.«
»Bestimmt war es nur ein Schatten«, versuchte Arved sie
zu beruhigen.
Die junge Frau sah ihn mit großen Augen an. »Es war
kein Schatten«, sagte sie mit einer Bestimmtheit, bei der es
Arved kalt den Rücken herunterlief. Sie rutschte auf dem kalten
Sofa ein Stück von ihm weg.
»Wie sah es denn aus?«, fragte Arved. Er
befürchtete, eine ganz bestimmte Antwort zu hören. Und er
hörte sie.
»Wie ein kleiner, dürrer Mensch mit Umhang und Kapuze.
Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich habe deutlich
gespürt, wie er mich angeschaut hat. Wer war das? Können
Sie mir das als Priester sagen?«
»Als suspendierter Priester…«
»Und da war noch etwas…«
Arved blickte sie fragend an. Irgendwo in den Tiefen der Wohnung
hörte er eine Uhr ticken. Der Duft des Büffelleders und ein
feiner Geruch nach Mottenkugeln, vielleicht aus dem chinesischen
Teppich, umwebte ihn und wurde immer dichter.
Magdalena Meisen fuhr fort: »Rechts und links neben der
Gestalt waren zwei kleine Schatten, wie zwei Katzen. Aber sie
saßen ganz still da, als wären es nur Statuen. Sie wirkten
so bedrohlich.«
Sofort musste Arved an Lilith und Salomé denken. Bald
würde er ihnen wieder begegnen – den Schatten in seinem
alten, zugigen Haus. Er wünschte sich, sie wären fort, wenn
er heimkam.
»Was ist das alles? Werde ich jetzt verrückt?«,
fragte Frau Meisen besorgt.
Arved schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht. Was Sie
erlebt haben, ist einfach zu viel gewesen. Sie werden wieder zu sich
kommen und alles Dunkle wird einmal ein Ende haben.«
Lügner! Das glaubst du doch selbst nicht. Sieh sie dir
bloß einmal an.
Sie schenkte ihm einen dankbaren Blick. Die Menschen brauchen
Lügen, dachte er. Ohne Lügen können sie nicht leben.
Die Wirklichkeit ist unerträglich.
Irgendwo schellte ein Telefon. Es war laut, beharrlich, piepsig.
Frau Meisen sprang auf und rannte in die Diele. Arved lehnte sich auf
der Couch zurück und wollte nicht lauschen, doch es ließ
sich kaum vermeiden.
»Ja… ja, in Ordnung. Ich weiß nicht…
Können Sie denn jemanden empfehlen? Das Grab? Hier in Trier. Am
liebsten auf dem Friedhof an Sankt Matthias, wenn das geht. Muss ich
das wirklich? Geht das telefonisch? Nein? Aber unser Auto… mein
Auto ist nicht hier. Ich weiß gar nichts mehr. Geben Sie mir
die Adresse, bitte. Alte Chaussee 33, in Wittlich. Vielen Dank. Ja,
heute noch.« Es wurde aufgelegt.
Die junge Frau kam wieder in das Wohnzimmer. Sie strich sich mit
der rechten Hand eine imaginäre Locke aus dem Gesicht, rieb an
Bluse und Jeans, als müsse sie darauf Flecken entfernen, die nur
sie sehen konnte, und ließ sich schwer in den Sessel fallen.
»Das Krankenhaus hat mir einen Bestattungsunternehmer in
Wittlich vorgeschlagen. Und der Wagen steht noch in Himmerod. Wie
soll ich das nur alles machen?« Ihre ängstlichen Blicke
schweiften unstet in dem großen Wohnzimmer umher.
»Ich bringe Sie nach Himmerod zu Ihrem Wagen«, erbot
sich Arved.
»Das wäre sehr lieb von Ihnen. Ich will Ihre Zeit nicht
noch mehr beanspruchen, aber ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie
mich zu dem Beerdigungsunternehmen begleiten könnten. Ich
fürchte, ich schaffe das allein nicht.« Sie schaute ihn
flehend und bettelnd an. Selbst wenn Arved ihrem Wunsch nicht
hätte entsprechen wollen, wäre es ihm jetzt unmöglich
gewesen, ihn abzuschlagen. Er nickte.
Als sie das Wohnzimmer verließen, warf er einen letzten
Blick zu dem knospenden Ahorn. Er wollte den Schatten nicht sehen,
der zwischen den Zweigen lauerte.
* * *
Der VW Golf stand auf dem neuen Parkplatz auf der anderen Seite
der Straße, die von Großlittgen aus durch das Salmtal
führte. Arved lenkte den schwerfälligen Bentley neben den
kleinen Wagen und ließ Magdalena Meisen aussteigen. Er
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