Hexennacht
Magen
auszupumpen.«
Arved wagte nicht, sie nach ihrem Mann zu fragen. Er fühlte
sich hilflos. Aber er wusste, dass er helfen musste.
Schließlich war es als Seelsorger seine Aufgabe.
Gewesen.
Hinter Frau Meisen erhob sich jenseits der Milchglastür
wieder der drohende Schatten. Arved zuckte zusammen.
Die junge Frau bemerkte es, drehte sich um und folgte seinen
Blicken. Sie sagte nichts. Sah sie den Umriss? Sie wandte sich wieder
an Arved und schlang die Arme um ihren Körper, als friere sie.
»Wären Sie so lieb, mich nach Hause zu fahren?«,
fragte sie mit Erschöpfung in der Stimme.
»Selbstverständlich.« Die Situation war Arved
unheimlich. Alles war so unwirklich, so bizarr. Da standen sie und
wagten nicht, über Jürgen Meisens Tod zu reden, als
könnten sie auf diese Weise das Geschehene ungeschehen machen.
Woran mochte er gestorben sein? Was war das gewesen, das er in der
Hütte gegessen hatte? Was stand auf dem Totenschein? Das geht
dich alles nichts an, dachte Arved. All das war nun unwichtig; er
sollte sich nicht um die Toten, sondern um die Lebenden
kümmern.
Arved bot Magdalena Meisen den Arm, doch sie lehnte ihn ab und
ging aufrecht neben ihm her. Als sie hinaus in die frische
Frühlingsluft traten, seufzte die junge Frau schwer, doch sie
sagte immer noch nichts. Arved geleitete sie zu seinem Wagen, hielt
ihr die Tür auf und half ihr beim Einsteigen. Sie schien
unendlich schwach zu sein. Er hielt es für unverantwortlich von
den Ärzten, sie bereits zu entlassen. Als er hinter dem Lenkrad
saß, fragte er sie, wohin er sie bringen solle.
»In die Saarburger Straße; das ist in der Nähe von
Sankt Matthias«, sagte sie und schaute in eine imaginäre
Ferne.
Er startete den Motor und fuhr los. Während der ganzen Fahrt
sagte Magdalena Meisen kein einziges Wort. Manchmal strich sie sich
durch die kurzen schwarzen Haare, manchmal rieb sie sich die Augen,
als könne sie nicht glauben, was sie sah. Sie schaute nach innen
– und zurück.
Es war eine höchst unangenehme Reise. Arved blickte manchmal
zu seiner Beifahrerin hinüber, aber er traute sich nicht, das
Schweigen zu durchbrechen. Sie waren beide eingesponnen in den Kokon
ihres Selbst, unfähig zu jeglichem Gespräch.
Er war froh, als sie endlich die Saarburger Straße im
Süden von Trier erreicht hatten. Sie waren an der alten Abtei
Sankt Matthias vorbeigefahren, an der hohen Mauer, von der Arved nie
wusste, ob sie die Welt von den Benediktinern oder die Benediktiner
von der Welt fern halten sollte. Die Saarburger Straße bestand
auf der einen Seite aus Garagen, auf der anderen aus
zweistöckigen Flachbauten mit weiß gestrichenen Ziegeln
und rosafarbenen Baikonen – vermutlich aus den fünfziger
Jahren. Zwischen den alten Eichen und Linden hinter der Klostermauer
ragte der romanische Turm von Sankt Matthias ein Stück hervor
– wie die Vision einer untergegangenen Welt.
»Nummer 1«, sagte Frau Meisen mit tonloser Stimme.
Vor dem Haus war ein enger Parkplatz frei. Arved setzte den
schweren Wagen unter einigen Anstrengungen und mehrfachen
Anläufen zwischen die anderen Autos und war Magdalena Meisen
beim Aussteigen behilflich.
»Hier wohnen Sie?«, fragte er. Als sie nickte, setzte er
nach: »Sie sollten jetzt nicht allein sein. Haben Sie keine
Freunde, zu denen ich Sie bringen könnte?«
Frau Meisen schüttelte den Kopf. »Ich will allein
sein.« Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel.
Er rutschte zwischen ihren Fingern hindurch und fiel klappernd auf
den Bürgersteig.
Arved bückte sich rasch und hob ihn auf. Als er ihn der
jungen Frau überreichte, brach sie in Tränen aus und
schluchzte heftig. Ihr ganzer Körper erzitterte. Er nahm sie in
den Arm. In diesem Zustand konnte er sie unmöglich allein
lassen. Sie schloss die Haustür auf. Er brachte sie nach oben in
den ersten Stock, wo ihre Wohnung lag. Sie ließ es zu, dass er
bei ihr eintrat und sie auf das Sofa im Wohnzimmer setzte. Es war aus
Büffelleder und roch nach teurem Designer-Möbel – wie
alles, was er mit einem kurzen Blick sah. Die beiden Bauhaus-Sessel
schienen Originale zu sein, und auch die Anrichte sowie die moderne
Stehlampe wirkten sehr wertvoll. An der Wand über der Anrichte
und dem Sofa hingen zwei abstrakte Ölgemälde. Der Teppich,
der beinahe den ganzen Parkettboden bedeckte, kam aus China und hatte
das wunderbarste Königsblau, das Arved je gesehen hatte. Die
gesamte Einrichtung bildete einen seltsamen Kontrast zu dem Haus, in
dem sie sich
Weitere Kostenlose Bücher