Hexennacht
Ende des Ganges spreizte eine ausladende Kastanie ihre
noch jungen Blätter. Etwas an ihr nahm seine Aufmerksamkeit
gefangen.
Es war ein schwarzer Umriss, den er zuerst beiläufig als
besonders dicken und bizarren Ast angesehen hatte. Er ging näher
an das Fenster heran.
Und rieb sich die Augen.
Es war die kleine Kapuzengestalt, mit der er gestern
zusammengestoßen war. Sie hockte auf einem der Äste und
schien in das Krankenhaus zu starren. Im nächsten Augenblick war
sie verschwunden; der Umriss hatte sich verwandelt. Nun war es eine
gewaltige Eule. Arved kniff die Augen zusammen und drückte das
Gesicht gegen die Scheibe. Dann musste er lachen. Es klang schrill.
Was er gesehen hatte, war bloß ein Kinderdrachen, der sich im
Gezweig verfangen hatte. Seine Phantasie war mit ihm
durchgegangen.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Die Stimme klang weich, zart, wie aus einer anderen Welt. Arved
drehte sich um und blickte in die braunen Augen einer
Krankenschwester, die etwa einen Meter von ihm entfernt stehen
geblieben war. Sie hatte die Hände vor der Brust
verschränkt; ihre ganze Haltung drückte Vorsicht und
Anspannung aus. Schwarze Ringe lagen unter ihren Augen.
»Ja, vielen Dank«, beeilte sich Arved zu sagen.
»Ich suche Magdalena Meisen. Ihre Zimmernachbarin sagte, es sei
etwas passiert.«
»Sind Sie ein Verwandter?«, fragte die Krankenschwester
zurück. Ihre Mundwinkel zitterten leicht.
Arved erklärte ihr, dass er derjenige sei, der das Ehepaar
Meisen am vergangenen Abend eingeliefert hatte. Die Krankenschwester
biss sich auf die Unterlippe. Ihre Müdigkeit und Nervosität
machte die ansonsten schöne Frau alt und verhärmt. Sie tat
Arved Leid. Durch seine pastoralen Besuche in Krankenhäusern
kannte er die Belastungen des Personals, das oft unter fast
menschenunwürdigen Umständen seinen Dienst versah. Doch an
dieser Frau war etwas anders. Sie wirkte, als habe sie Angst.
»Frau Meisen geht es so weit gut«, sagte sie
schließlich. »Sie ist unten, glaube ich.«
»Unten?«
»Auf der Intensivstation.«
Arved sah sie erstaunt an. Er fühlte sich, als werde ihm der
Boden unter den Füßen weggezogen. Magdalena Meisen hatte
doch gestern noch halbwegs gesund und munter gewirkt.
Die Krankenschwester sah ihm seine Gedanken an, die ihm deutlich
ins Gesicht geschrieben standen. Sie wagte ein ganz schwaches,
müdes Lächeln und steckte die Hände in die Taschen
ihres weißen Kittels. »Nein, Frau Meisen geht es gut. Sie
ist bei ihrem Mann. Erdgeschoss, vom Aufzug aus rechts, dort
können Sie vor der Tür mit dem Milchglas schellen.«
Sie drehte sich um und ging.
Natürlich, Magdalena Meisen war bei ihrem Mann. Aber warum
hatte ihre Zimmernachbarin gesagt, es sei etwas passiert? Arved nahm
den Aufzug, stand kurze Zeit später vor der Tür der
Intensivstation und schellte.
»Ja, bitte?«, ertönte eine mechanisch schnarrende
Stimme.
»Ich möchte zu Magdalena Meisen. Ich habe gehört,
dass sie hier unten ist.«
Schweigen; das einzige Geräusch war ein Knistern in der
Leitung. Dann: »Es tut mir Leid, aber der Zugang ist nur
für Angehörige.«
»Wie geht es ihr und ihrem Mann?«
»Ich bedaure, aber Auskünfte können wir nur an
Familienangehörige geben. Sind Sie verwandt mit dem Ehepaar
Meisen?«
Die Stimme war unerbittlich; durch die elektronische Verzerrung
konnte Arved nicht einmal sagen, ob sie männlich oder weiblich
war. Kurz war er versucht, sich als Angehöriger auszugeben, doch
er wollte nicht lügen. Er gab keine Antwort mehr. Hinter der
Milchglasscheibe sah er schwarze Schemen huschen. Einer von ihnen
blieb plötzlich vor der Tür stehen. Reglos. Schien
geradewegs durch das undurchsichtige Glas zu spähen. Ihn
anzustarren. Dann ging er weg.
Kurze Zeit später kam Frau Meisen heraus. Sie hatte rote,
verweinte Augen. In ihrem Blick mischten sich Angst, Trauer und
Verständnislosigkeit. Als sie Arved sah, lief sie ihm entgegen
und schlang die Arme um ihn. Er ließ es geschehen und
streichelte ihr besänftigend die Schulter.
Sie sah ihn an und sagte leise: »Bringen Sie mich weg von
hier.«
»Was ist passiert?«, fragte er. Dass ihr Mann tot war,
wusste er, seit er ihren Blick gesehen hatte.
Sie trat einen Schritt von Arved zurück und rieb sich die
verweinten Augen. »Ich will nach Hause.«
»Haben die Ärzte Sie entlassen?«, fragte Arved
erstaunt.
Magdalena Meisen nickte. »Die Untersuchungen haben nichts
ergeben. Ich bin gesund. Man brauchte mir nicht einmal den
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