Hexennacht
hatte auch solche beobachtet, die nach kurzer Zeit scheinbar
vergessen hatten. Immer jedoch war mit ihnen eine tiefe
Veränderung vorgegangen – eine Veränderung, die Arved
nicht nachvollziehen konnte, so sehr er sich auch bemühte. Der
Blinde und die Farben. Man kann ein Leben nicht rein theoretisch
leben, dachte er verbittert.
Frau Meisen versuchte krampfhaft, nicht wieder zu weinen.
»Ich hätte so gern Abschied von ihm genommen.«
»Warum war das nicht möglich?«, fragte Arved
ehrlich verwundert.
»Er lag schon im Sarg.«
Arved verstand nicht. Er beugte sich in seinem Sessel vor. Es
knarrte leicht. »Man hätte ihn doch öffnen
können.«
Magdalena Meisen schaute ihn mit großen Augen an. »Ich
habe den Sarg gesehen. Er war aus Zink.« Sie holte Luft wie vor
einem weiten Sprung. »Er war verschraubt und
verplombt.«
8. Kapitel
»Verplombt?« Arved traute seinen Ohren nicht.
»Warum denn das?«
Magdalena Meisen zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es
nicht. Man hat mir ja nichts gesagt. Vielleicht war es eine
ansteckende Krankheit.«
»Das glaube ich nicht«, dachte Arved laut nach. »In
diesem Fall hätte man Sie sofort unter Quarantäne gestellt
und mich vermutlich ebenfalls.«
»Ich muss herausfinden, was mit ihm passiert ist«, sagte
die junge Frau und begann wieder zu schluchzen. »Sonst werde ich
keine Ruhe finden.«
»Wissen Sie, ob man den Leichnam Ihres Mannes obduzieren
wird?«, fragte Arved und kam sich sogleich schrecklich roh vor.
Allein die Vorstellung, dass man ihren Gatten aufschneiden und in
seinem toten Fleisch herumwühlen würde, war sicherlich
für Frau Meisen unerträglich.
In der Tat verstärkten sich ihre Schluchzer. Sie schaute
Arved mit roten Augen an. »Das wollen sie tun? Ich weiß es
nicht. Aber allein der Gedanke daran ist furchtbar.«
Er überwand sich endlich, setzte sich neben sie auf die Couch
und legte ganz sanft den Arm um sie, als berühre er einen
Schmetterling. Sie vergrub das Gesicht an seiner Schulter und krallte
sich an ihm fest. Das Büffelleder knarzte, als Arved versuchte,
ein wenig von ihr wegzurücken und sie gleichzeitig nicht von
sich zu stoßen.
Eine Weile weinte sie nur. Sie tat Arved unendlich Leid. Er
schaute nach draußen in den Ahorn, dessen helle, winzige
Blätter nur mehr eine Ahnung und ein Versprechen des
Frühlings waren – eines Frühlings, den diese junge
Frau nicht bewusst erleben würde. Für sie war die Welt
schwarz und kalt geworden. Arved fragte sich erneut, wie es wohl war,
wenn man den Ehepartner durch einen solch schrecklichen Vorfall
verlor. Konnte man denn zu einem normalen Leben zurückkehren?
Oder war man für die Belange der Welt verloren? Er musste sich
eingestehen, dass er in diesem Augenblick froh war, ein solches
Gefühl niemals erfahren zu müssen.
Magdalena Meisen riss ihn aus seinen Gedanken. »Wie geht es
jetzt überhaupt weiter?«, fragte sie mit
tränenerstickter Stimme.
Arved schob sie ein wenig von sich weg und sah ihr in die
quälend trauervollen Augen. »Der Leichnam muss freigegeben
werden; dann muss man ein Beerdigungsunternehmen beauftragen, das
auch alle Formalitäten erledigt. Sind Sie
berufstätig?«
Frau Meisen nickte. »Ich arbeite als Bibliothekarin in der
Stadtbibliothek.«
»Bestimmt ein schöner Beruf«, meinte Arved nicht
ganz aufrichtig. Er mochte Bücher, aber er konnte sich nicht
vorstellen, sein ganzes Leben mit ihnen zu verbringen.
»Ja, manchmal«, erwiderte Frau Meisen. »Vor allem,
wenn es um alte Drucke geht, also um Bücher, die vor 1800
gedruckt wurden. Ich liebe den Geruch alten Papiers und Pergaments.
Die Stadtbibliothek hat ganz außergewöhnliche Stücke.
Wussten Sie, dass wir einen Einzelband der zweibändigen
Gutenbergbibel besitzen, der sich übrigens in unserer
Dauerausstellung befindet?«
Arved musste seine Unkenntnis eingestehen.
Die junge Frau fuhr fort: »Wir haben vor zwei Wochen den
Nachlass von Friedrich Adolphi, einem großen Bibliophilen aus
der Eifel erhalten und ich bin mit der Katalogisierung und
bibliographischen Aufnahme betraut worden. Es ist wunderbar.«
Ein leichter Glanz schlich sich in ihre verweinten, roten Augen.
Arved war unendlich dankbar dafür.
In dem Ahorn flötete eine Amsel ein fröhliches Lied.
Magdalena Meisen schaute auf und lächelte ganz zart. Dann aber
riss sie den Mund auf. Sie starrte nach draußen, als könne
sie nicht glauben, was sie dort sah. Arved schaute in dieselbe
Richtung, über die Balkonbrüstung in den noch
Weitere Kostenlose Bücher