Hexennacht
einen
vorsichtigen Blick in das Innere.
Noch einen.
Und noch einen.
Arved wollte seinen Augen nicht trauen. Er sah hinüber zu dem
erstaunten Bestatter, der am Kopfende stand. Da wusste er, dass er
sich nicht getäuscht hatte.
Der Sarg war leer.
9. Kapitel
Eine so traurige Beerdigung hatte er noch nie gesehen.
Eine einzige Freundin von Magdalena Meisen war anwesend; sie
stützte die junge Witwe, die ganz in Schwarz gekleidet war und
sogar einen Hut mit schwarzer Spitze trug. Als sie aus der gotischen
Leichenhalle des Friedhofes von Sankt Matthias traten, schleuderte
die Sonne Lichtpfeile gegen sie. Die beiden Frauen gingen dicht
hinter dem Sarg. Ihnen folgten vier Männer, vermutlich
Architektenkollegen des Verstorbenen. Ein Priester war nicht
anwesend. Der kleine Leichenzug bog rechts vor der achteckigen
Quirinuskapelle ab, die sich mit ihrem Gelb und Weiß wie eine
frühe Blüte aus dem Feld der Gräber erhob. Dahinter
klaffte ein Torbogen in der Bruchsteinmauer, durch den man einen
Blick wie in einen Park hatte. Ein Vogelbeerbusch und eine kleine
Zypresse rahmten eine gewaltige Linde in der Ferne ein und nur die
kleinen Grabsteine zerstörten das Bild einer ruhigen, vom Dunkel
gereinigten Parklandschaft.
Hinter dem Durchgang wandte sich der Zug nach rechts. Die
Räder des Handwagens, auf dem der Sarg stand, knirschten
über den Kies. Eine Amsel sang irgendwo hinter der Klostermauer,
in einer anderen Welt, so nah, aber durch den Abgrund des Glaubens
von Arved getrennt.
Der Wagen blieb vor einem ausgeschachteten Grab stehen, aus deren
Kopfende unmittelbar an der Mauer sich eine Kreuzwegstation erhob. Es
war die fünfte: Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz
tragen, stand in Fraktur unter dem erstaunlich modern wirkenden
Bildstock. Es gab immer jemanden, der einem half, und jemanden, dem
man helfen musste, egal wie mächtig oder klein man war. Was
für ein tröstliches Bild. Plötzlich spürte Arved
eine Welle der Zuversicht und Freude durch sich branden. Ja, er
musste Magdalena Meisen helfen, wenn sie es zuließ, denn auch
sie half ihm. Sie half ihm, seine eigene Dunkelheit zu
überwinden.
Es hatte keine Leichenrede in der Trauerhalle gegeben,
natürlich auch keine Exequien, und am Grab warteten nur die
Friedhofsangestellten, die den Eichensarg an zwei dicken Seilen in
das Erdreich hinabließen. Frau Meisen schien Arved nicht einmal
wahrgenommen zu haben; sie wirkte wie in Trance. Nun schaute sie zu,
wie der Sarg in die Erde gesenkt wurde.
Der leere Sarg.
Es war drei Tage her, seit Arved und der Bestatter diese
unbegreifliche Entdeckung gemacht hatten. Sie hatten zuerst ihren
Augen nicht trauen wollen und waren erschüttert nach
draußen gegangen. In dem Besprechungszimmer hatten sie eine
Weile schweigend gesessen und dann überlegt, was sie tun
sollten. Zuerst hatte Arved mit dem Bestatter zum Krankenhaus gehen
und die Ärzte mit der Wahrheit konfrontieren wollen, doch der
junge Mann wehrte sich mit aller Kraft dagegen.
»Dann kommt heraus, dass ich gegen die Anweisung der
Ärzte gehandelt habe, und das könnte meinem Geschäft
großen Schaden zufügen. Ich bitte Sie, auch allein nichts
zu unternehmen.«
»Wollen Sie denn nicht wissen, was da passiert ist?«,
fragte Arved aufgebracht. »Hier ist etwas im Gange, das vor uns
und vor der Witwe verheimlicht werden soll. Das ist eine
Schweinerei!«
»Das mag schon sein, aber es ist nicht meine Sache. Wenn ich
nicht auf Sie gehört und den Sarg verschlossen gelassen
hätte, wäre ich jetzt nicht im Zwiespalt.«
»Wir sollten die Polizei rufen!«, brauste Arved auf und
schlug sich auf den Schenkel. »Schließlich ist eine Leiche
verschwunden.«
»Haben Sie den Geruch bemerkt?«, fragte der
Bestatter.
»Welchen Geruch?«
»Es war beinahe wie im Sommer – wie nach
süßen, gärenden Weintrauben…«
Arved hatte sich umstimmen lassen. Er hatte weder die Polizei
eingeschaltet, noch war er zum Krankenhaus zurückgekehrt. Der
Hinweis auf die Weintrauben hatte ihn umgestimmt. Es war die
Erinnerung an das, was Magdalena Meisen gesagt hatte – die
Erwähnung des Rebstocks in der verfallenen Hütte mitten im
Wald. Plötzlich hatte Arved nicht mehr an ein Komplott geglaubt.
Da war etwas anderes im Gange – etwas, das er sich nicht
erklären konnte, genauso wenig wie die Ärzte.
Was mochte mit dem Leichnam geschehen sein? Er würde es nie
erfahren.
In den Tagen bis zur Beerdigung hatte er nichts mehr von Frau
Meisen gehört. Er hatte einmal
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