Hexennacht
und Gedanken, und plötzlich
waren Trier und die unheimlichen und unverständlichen Erlebnisse
der letzten Tage sehr weit entfernt.
Doch andererseits lag der Wald, in dem die Schrecken ihren Anfang
genommen hatten, weniger als zehn Kilometer von hier entfernt.
Arved richtete sich auf, nahm das leicht zerknitterte schwarze
Jackett aus dem Fond, zog es über, ging die wenigen Schritte zur
schweren, messingfarbenen Tür und schellte.
Es öffnete ihm ein Mann, den er nicht kannte. Graue Barthaare
wuchsen auf eingefallenen Wangen wie ein Stoppelfeld; die grünen
Augen saßen tief in den Höhlen und waren von Schatten
umgeben. Ganz tief in den Augen lag etwas, das eine Erinnerung in
Arved wachrief. Er trat einen Schritt zurück.
»Thomas?«
»Arved! Was für eine Überraschung! Komm doch
herein!« In den Augentiefen entzündete sich ein kleines
Feuer, ein zartes Flämmchen. Der graue Mann machte eine
einladende Handbewegung und deutete in das Innere des Hauses. Arved
folgte der Geste. Die Tür schlug hinter ihm zu.
Das war nicht mehr der lustige, dynamische, vor Leben strotzende,
rotbäckige Thomas Hieronimi, den er als Student gekannt hatte;
es war ein Mann kurz vor seinem Tod.
Das Wohnzimmer, in das Thomas seinen Freund bat, war das
überdachte Äquivalent einer Müllkippe. Die Möbel
waren kaum mehr zu sehen; überall lagen Wäsche, Abfall,
Plastiktüten, ungespültes Geschirr und undefinierbare
Klumpen herum. Es roch dem entsprechend.
Thomas schien die Situation nicht peinlich zu sein. Er räumte
einen Berg Unterwäsche von einem Ledersessel und hieß
Arved, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich auf die Couch, deren
Existenz Arved erst jetzt unter den vielen Pullovern und Tüten
wahrnahm, die er für einen gewaltigen, amorphen Berg gehalten
hatte. Er wusste nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte. Da
war er aus Trier mit großen Problemen hier angereist und kam zu
jemandem, der offenbar noch größere Probleme hatte.
»Wie lange haben wir uns nicht gesehen?«, fragte Thomas
und lächelte Arved an. Das Feuer in seinen Augen war zu einem
Flächenbrand geworden und ließ etwas von dem alten Freund
erkennen.
»Zwanzig Jahre, glaube ich.«
»Wie die Zeit vergeht…«
»Aber wenigstens haben wir miteinander telefoniert.«
»Ich glaube, zum letzten Mal vor einem Jahr.«
»Stimmt.« Arved rutschte unbehaglich auf seinem glatten
Sessel hin und her. Er sah fast unbenutzt aus; die
Kleidungsstücke hatten wie eine Schutzschicht gewirkt.
»Damals warst du sehr zufrieden mit deinem Leben…«
»Du auch…«
Arved fühlte sich durchschaut. Natürlich, warum sollte
er seinen Freund nach so langer Zeit plötzlich und ohne
Voranmeldung besuchen, wenn er nicht in Schwierigkeiten steckte? Er
seufzte. »Also gut, ich hatte mir vorgenommen, dich um Hilfe zu
bitten. Aber du scheinst eher derjenige zu sein, der Hilfe
braucht.«
Thomas schaute sich um; es wirkte, als sehe er das Zimmer zum
ersten Mal. Dann lachte er. Wie früher. »Ach, das meinst
du?«, sagte er und machte eine Geste, als wolle er das ganze
Zimmer umarmen. »Weißt du, das ist so, wenn man eine nicht
so gute medizinische Diagnose bekommen hat und die Frau einen
verlässt.«
Arved schwieg. Himmel! Was mochte Thomas haben? Krebs? Sein
Äußeres deutete darauf hin. Und dann der Verlust seiner
Frau – die Arved nie kennen gelernt hatte. Verglichen mit seinen
eigenen Halluzinationen waren das wirkliche Probleme. Er rutschte
immer weiter an die Kante des Sessels und wusste nicht, wie er sich
verhalten sollte. Thomas’ Blick ruhte auf ihm. Der Blick des
Feuers.
»Reden wir nicht von mir. Was führt dich her?«
Arved atmete innerlich auf. Es brach aus ihm hervor, als sei eine
Schleuse geöffnet worden. Er berichtete von seinen
Glaubenszweifeln, von dem Erbe der Lydia Vonnegut, von Jürgen
und Magdalena Meisen und davon, wie die junge Witwe gestern Abend vor
seinen Augen verschwunden war und ihn danach im Traum heimgesucht
hatte.
Thomas hörte aufmerksam zu und stützte das Kinn auf die
Hände. Als Arved verstummte, meinte er: »Interessant.
Höchst interessant. Wenn ich dich nicht aus vergangenen Tagen
kennen würde, müsste ich sagen, dass du eine religiöse
Psychose hast. Aber ich kenne dich. Und daher glaube ich dir –
bis zu einem gewissen Punkt.«
»Bis zu welchem Punkt?«
»Nun«, meinte Thomas und kratzte sich den grauen
Stoppelbart, »ich gebe zu, dass ich gewisse Schwierigkeiten
habe, was deine Schilderung des Verschwindens dieser
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