Hexennacht
umschaute. Links von der Theke standen zwei Tische,
rechts davon drei, einer war besetzt – Touristen. Das Fleisch am
Drehspieß sah in der Tat einladend aus und die Salattheke
machte einen frischen Eindruck.
»Eine türkische Limonade. Sehr süß. Sie wird
dir schmecken. Ich weiß doch, dass du so gern Süßes
isst und trinkst.«
»Früher…«
»Ach, jetzt nicht mehr? Schlechtes Zeichen. Zwei Lahmacun wie
immer, Mehmet. Und zwei Uludag.«
Sie setzten sich an einen der freien Tische. Thomas schien
aufzublühen. Plötzlich sah er nicht mehr so grau aus.
»Zurück zu deiner Geschichte«, sagte er.
»Hier?«, fragte Arved leise und schaute hinüber zu
dem anderen besetzten Tisch. Machten die beiden dort, das
Mädchen und der pickelgesichtige Junge, nicht schon lange
Ohren?
»Natürlich hier, im Leben, nicht in meinem Haus, im
Tod«, sagte Thomas. »Deine Geschichte ist insoweit
bemerkenswert, da es Zeugen gibt – nur nicht für deine
letzte Behauptung.«
»Aber sie ist wirklich…«, er wurde noch leiser,
»verschwunden.«
»Es gibt viele derartige Berichte. Seltsame Ereignisse
führen manchmal zu Halluzinationen. Ich will dich nicht mit
Psychologenkram langweilen. So ganz einmalig ist dein Fall
nicht.«
»Also glaubst du mir doch nicht!«, raunzte Arved lauter,
als er beabsichtigt hatte. Das junge Pärchen schaute nun
herüber. Der Mann in dem dunklen Anzug und der abgerissene, wie
ein Penner wirkende Grauhaarige gaben ein wahrhaft seltsames Paar
ab.
Die Lahmacun kamen. Sie waren in Alufolie eingerollt, aus der der
Raden, das Brot und das Fleisch herausschauten. Thomas biss hinein,
als habe er seit Tagen nichts mehr gegessen. Auch Arved kostete
vorsichtig.
Es schmeckte ausgezeichnet. Frisch, würzig, kräftig.
Fremdartig. Er ging selten in ausländische Lokale, und in ein
türkisches hatte er sich bisher noch nie getraut. Er aß
immer schneller.
Wenn Thomas gerade einmal den Mund leer und mit der herrlich
süßen Limonade nachgespült hatte, setzte er die
Unterhaltung bruchstückhaft fort. Er schien immer mehr der alte
zu werden.
»Es könnte eine ansteckende Krankheit gewesen sein,
irgendetwas sehr Exotisches, oder vielleicht hatte man den Sarg
vertauscht und statt des Leichnams von Jürgen Meisen einen
leeren Sarg an den Bestatter geschickt. Wäre das absolut
unmöglich?«
Arved schüttelte den Kopf. »Nein, unmöglich
wäre es nicht…«
»Na siehst du! Und in deinem Kopf hat sich die ganze
Geschichte zu etwas wahrhaft Ungeheuerlichem ausgesponnen, zumal du
in einer sehr schwierigen Lage warst, da du gerade deine
Suspendierung bekommen hattest.«
Arved musste gestehen, dass an den Worten seines Freundes etwas
Wahres war. Er schluckte den letzten Bissen herunter, war ziemlich
traurig darüber, aber auch sehr satt, und spülte mit der
Limonade nach. »Aber was ist mit dem Verschwinden Magdalena
Meisens?«, fragte er und schielte hinüber zu dem jungen
Pärchen. Sie taten so, als beschäftigten sie sich mit sich
selbst, aber Arved bemerkte genau, wie angespannt sie lauschten.
»Da kommt mein früherer Beruf ins Spiel«, meinte
Thomas grinsend.
»Dein… früherer Beruf?«, fragte Arved
verständnislos.
»Ich habe meine Praxis schon vor einigen Monaten aufgegeben
– als ich die Diagnose bekommen habe.« Er schaute in eine
Ferne, die niemand außer ihm selbst erreichen konnte. Endlich
redete er weiter: »Es gibt nur eine Methode, dich von deiner
fixen Idee zu befreien.«
»Und die wäre?«, fragte Arved und schaute sein
Gegenüber eindringlich an.
»Wir beide besuchen gemeinsam die Stelle im Wald, wo
angeblich das verfallene Haus steht.«
11. Kapitel
Thomas dirigierte Arved eine serpentinenreiche Straße
hinunter in das Tal der kleinen Kyll und auf der anderen Seite wieder
in steilen Biegungen hinauf, bis sie die Abzweigung nach Eisenschmitt
erreichten.
»Geradeaus in den Kunowald«, befahl Thomas. »Auf
der Straße gibt es nur einen einzigen ausgeschilderten
Parkplatz, an dem auch ein Kinderspielplatz liegt.«
Arved folgte der Anweisung seines Freundes. Sie fuhren durch hohen
Mischwald. War das die Straße, die Arved in jener Nacht nach
Wittlich genommen hatte? Es musste sie sein; es gab keine andere.
Aber er erkannte nichts wieder. Die Nacht veränderte alle
Umrisse – und alle Inhalte. Zusammen mit den Farben verschwand
die Identität der Dinge – und die der Menschen. Nun, im
alles durchwebenden Sonnenschein, wirkte dieser Wald trotz seiner
Dichte licht und auf fröhliche
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