Hexennacht
Weise lebendig. Damals, bei
Dunkelheit und im Gewitter, hatte er wie eine abgestorbene Kulisse
ausgesehen.
Der Parkplatz war rasch erreicht. Arved erkannte ihn wieder. Er
stellte den Bentley hinter einen kleinen Land Rover, in dem niemand
saß, und stieg aus.
Thomas reckte und streckte sich und sog die Luft ein, als
könne sie ihm wieder mehr Substanz und Farbe verleihen.
Tatsächlich schien es ihm nun besser zu gehen. »War es
hier?«, fragte er.
Arved nickte.
»Kannst du dich noch an den Weg erinnern?«
Arved sah sich um. Es führte nur ein einziger breiter Weg mit
einer Grasnabe in der Mitte von dem Parkplatz weg in den Wald hinein.
Er ging los; Thomas lief schweigend neben ihm her.
Schon an der ersten Abzweigung wusste Arved nicht mehr, welchen
Weg er nehmen sollte. Er sah Thomas ratlos an. Dieser zuckte die
Achseln.
»Wie lange seid ihr denn von der Hütte bis zum Parkplatz
gegangen?«, fragte der Psychiater.
»Keine Ahnung«, gab Arved zu und suchte noch immer die
vier Richtungen mit den Augen ab. Vielleicht gab es irgendwo eine
Landmarke, an die er sich erinnerte. Doch der Wald sah überall
gleich aus. Kleine Schonungen wechselten mit hohem Mischwald und
dunklen Fichtenhainen ab. Vogelgesang perlte herab wie Klang
gewordenes Sonnenlicht; im Unterholz summte und schwirrte es vor
aufgeregtem Leben. Der Wald atmete in tiefen,
gleichmäßigen Zügen ein und aus.
Doch da war ein Fleck; etwas, das nicht hierher gehörte.
Zuerst war es kaum mehr als eine Störung am Rande des
Blickfeldes. Dann wurde es größer. Ein schwarzer Fleck,
der das Frühlingsweben in seiner Nähe aufzusaugen schien.
Arved rieb sich die Augen und schaute wieder hin.
»Was ist los?«, fragte Thomas.
»Da hinten, auf dem Weg«, antwortete Arved und deutete
mit der Hand nach rechts. »Siehst du den schwarzen
Punkt?«
Thomas kniff die Augen zusammen. »Ja. Vermutlich ein
Wanderer. Er kommt näher.«
Arved schluckte und ließ die Hand sinken.
»Glaubst du etwa, es ist deine Magdalena?«, fragte
Thomas mit einem spöttelnden Unterton.
Arved zuckte die Schultern.
»Seid wir beide zusammen sind, scheinst du keine Visionen
mehr gehabt zu haben, oder?«, meinte Thomas und schaute
weiterhin in dieselbe Richtung wie sein Freund. »Du siehst, dass
du nur Gespenster gesehen hast.«
»Und wenn es wirklich Gespenster waren?«, flüsterte
Arved.
»Wo bleibt dein Sinn für die Realitäten?«,
wies Thomas ihn zurecht, ohne den Blick von dem größer
werdenden schwarzen Fleck abzuwenden. »Ich gebe zu, dass du viel
länger geblendet warst als ich, aber wie du mir vorhin berichtet
hast, bist zu inzwischen ebenfalls zu der Einsicht gekommen, dass es
keine Gespenster, keinen Teufel und auch keinen Gott gibt. Wir machen
uns unsere Gespenster selbst – die guten und die
bösen.«
Der schwarze Heck stellte sich tatsächlich als wandernde
Gestalt heraus – als kleine Gestalt in einem Umhang. Arved
schluckte. Dort, wo der Kopf sein sollte, war nichts als
Schwärze. »Und was ist das da?«, fragte er leise und
zeigte auf die Gestalt.
Thomas schien einen Augenblick lang zu schwanken. Dann sagte er:
»Jemand, der sich vor schlechtem Wetter geschützt
hat.«
»An einem strahlenden Frühlingstag?«
Thomas schaute hoch und runzelte die Stirn. Keine Wolke fleckte
mehr den Himmel, der wie ein Deckel aus blauem Stahl über dem
Wald lag.
Nun war die Gestalt so nahe herangekommen, dass sie Einzelheiten
erkennen konnten. Es war ein bis zu den Füßen reichender
Umhang aus schwarzem Stoff und die Kapuze glich der an einer
Mönchskutte. Ein Gesicht war nicht zu sehen. Die Gestalt hielt
einen großen Ast in der Hand, der ihr als Wanderstab diente.
Sie wirkte fast wie einem Comic-Heft entsprungen.
»Guten Tag«, sagte Thomas, als die Gestalt schon beinahe
vor ihnen stand. Sie nahm die Kapuze nicht vom Kopf, sondern ging
einfach weiter. Sie schritt so nahe an Arved vorbei, dass der Saum
ihres Gewandes seine Hosenbeine streifte. Schon war sie
vorüber.
»Wir suchen ein Haus, das hier irgendwo im Wald stehen
soll«, rief Thomas ihr nach.
Eine hohe Stimme, alt wie die Welt, brüchig wie uraltes
Papier, wehte auf dem Wind heran: »Geradeaus, nicht mehr weit,
dann rechts in den Wald hinein. Seht euch vor.«
Arved hatte eine merkwürdige Empfindung, als er die Stimme
hörte. Erinnerte sie ihn nicht an jemanden, auch wenn sie
schrecklich verzerrt war? Er versuchte sich zu konzentrieren, aber es
gelang ihm nicht. Er schüttelte den Kopf. Und drehte sich
um.
Die
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