Hexennacht
schwarze Gestalt war verschwunden.
»Komm«, sagte Thomas und ging voran. »Wenigstens
wissen wir jetzt, wo unser Ziel liegt.«
»Wer war das?«, murmelte Arved wie zu sich selbst. Der
Kies knirschte unter seinen Schuhen, als er Thomas folgte. Der Gesang
der Vögel schien gedämpft zu sein und selbst das
Sonnenlicht wirkte, als fließe es durch einen dunklen Filter.
Kleine Äste von Buchen und Linden bogen sich unter einem
aufkommenden Wind. Dunkelgrünes Licht zitterte zwischen ihnen
und machte den Waldboden auf beiden Seiten des Weges zu dem Grund
eines tiefen Sees.
»Da hinten! Ich glaube, ich sehe etwas!«, rief Thomas
und bahnte sich einen Weg an Sträuchern vorbei – vielleicht
Brombeeren, vielleicht Himbeeren – in den Wald hinein. Arved
folgte ihm. Tatsächlich bemerkte auch er in der Ferne etwas
Großes, Massives. Er glaubte sich an einige Walddinge zu
erinnern – an den großen, bemoosten Baumstumpf dort
hinten, an die verdrehte Buche rechts von ihm, in deren Gabelgezweig
ein gewaltiges Nest hing, an den umgefallenen Baumstamm mit dem
Efeugerank, das wie Fesseln wirkte.
Wie ein riesiges Gewächs, ein Auswuchs, ein Geschwür
stand das verfallene Haus da. Das eingefallene, an manchen Stellen
noch in das Gezweig hineinragende Dach erinnerte Arved an ein
fauliges Gebiss, und die Löcher in den Wänden waren wie
Wunden in krankem Fleisch.
Thomas blieb stehen und schaute an der Fassade hoch. »Ist es
das?«, fragte er sehr leise, während er sich umdrehte und
seinen Freund anschaute.
Arved nickte. Ihm saß ein Kloß im Hals. Damals –
wie lange war es her? – hatte er das Haus kaum wahrgenommen; er
hatte nur Augen für das Ehepaar Meisen gehabt und ihnen zu
helfen versucht. Jetzt, in der Ruhe des Frühlingstages, nahm er
das Haus erst richtig wahr. Fast schien es, als hinge ein
ungreifbarer Schatten aus grüner Furcht über dem
Gebäude. Arved bekam eine Gänsehaut. Schon wollte er Thomas
warnen, doch dieser war bereits im Inneren verschwunden. Arved fasste
sich ein Herz und folgte dem Psychiater.
Er stand gegen die Wand gelehnt. Sein bartstoppeliges Gesicht war
noch grauer als zuvor. Er schien nur mit Mühe atmen zu
können. Thomas kniff die Augen wie unter großen Schmerzen
zusammen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Arved und ärgerte sich
sofort über die Lächerlichkeit seiner Worte. Thomas schlug
die Augen auf. In seinem Blick lag eine Mischung aus Trauer und
mildem Spott. Er hatte kaum die Kraft zu nicken.
Arved warf einen Blick auf den Boden. Dort, wo in jener Hexennacht
die Reste der Kreidezeichnung gewesen waren, war nun nichts mehr zu
sehen. Die Steinplatten wirkten aber wie frisch gescheuert. Kein
Blatt lag auf ihnen, keine Nadeln, keine angewehte Erde, nichts.
Und natürlich gab es keine Spur eines Rebstocks.
Als sich Thomas ein wenig erholt hatte, drückte er sich von
der rauen Wand ab, beschrieb mit dem Arm einen Halbkreis und sagte:
»Keine Weintrauben, nichts Außergewöhnliches, nur
eine Ruine. Oder siehst du das anders?«
Arved schüttelte den Kopf und nagte an seiner Unterlippe.
»Den Rebstock habe ich ja auch bei meinem ersten Besuch nicht
gesehen. Bestimmt hat Jürgen Meisen von den Sträuchern
draußen am Weg gegessen. Vielleicht waren es gar keine Trauben,
sondern Brombeeren.«
»Jetzt, im Frühling? Hast du etwa Beeren an ihnen
gesehen? Deine Botanikkenntnisse waren noch nie hervorragend«,
spöttelte Thomas, in dessen Gesicht ein wenig Farbe
zurückgekehrt war. Er ging in dem großen Zimmer umher, von
dem eine Ecke wohl als Kochstelle abgetrennt gewesen war. Nun zeugten
davon nur noch angeschwärzte Mauerreste und ein Kamin in der
zerfallenden Wand. »Wer mag hier gewohnt haben?«, fragte er
die Zweige und Himmelsfetzen über sich.
Arved bückte sich und untersuchte den Boden. Nicht die
leiseste Spur von Kreide oder Kohle zeigte an, dass sich eine
Zeichnung auf dem Boden befunden hatte. Doch dafür entdeckte er
etwas anderes.
»Hier!«, sagte er erregt, sprang auf und lief in die
Ecke, in der Thomas stand und in die Wipfel schaute. »Da ist
etwas im Boden!«
Der Psychiater sah ihn erstaunt an und folgte Arved zu einer
Stelle, wo in der Tat eine Unregelmäßigkeit zwischen den
Steinplatten hervortrat, die man erst beim zweiten oder dritten Blick
bemerken konnte.
Thomas kniete nieder. Die Fugen waren um eine der Platten herum
breiter als um die anderen, und es hatte den Anschein, als befinde
sich in ihnen kein Mörtel.
Thomas erhob sich wieder und trat auf die Platte.
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