Hexennacht
wollte seinem Freund die Lichtung zeigen, doch Thomas
weigerte sich, sie zu sehen. »Ich kann nicht mehr«, sagte
er. »Bring mich nach Hause.«
Nach kurzer Suche fanden sie den Weg und gingen zurück zum
Wagen. Schweigend fuhren sie die kurvenreiche Strecke zurück
nach Manderscheid. Als sie wieder im rumpeligen Wohnzimmer des
Psychiaters saßen, ergriff für lange Zeit keiner von
beiden das Wort. Sie sahen aneinander vorbei und waren in ihren
Gedankenwelten gefangen. Arved hatte nun den Beweis erhalten, dass
nicht alle unerklärlichen Umstände bloß seiner
Phantasie oder etwelchen Schuldkomplexen entsprungen waren. Er dachte
an die Gestalt im schwarzen Umhang. Thomas hatte sie ebenfalls
gesehen, und sie beide hatten ihre Worte gehört; also konnte sie
keine Einbildung gewesen sein. Und die im Stamm des Baumes verborgene
und ihn anflehende Magdalena? Und die Eulen? Und die Geheimkammer
unter der verfallenen Hütte? Und das Weinlaub?
Plötzlich stand Thomas auf. Er wankte ein wenig, hielt sich
an dem Sessel fest, in dem Arved saß, richtete sich auf, atmete
tief durch und verließ das Zimmer. Arved sah ihm nach. Sein
Freund war nur noch ein Schatten seiner selbst. Was mochte es
für eine Krankheit sein? Eine Krankheit zum Tode… Er tat
Arved unendlich Leid. Er hatte sich Thomas mit seinen Problemen
aufgedrängt, wo es doch Thomas selbst war, der Hilfe
brauchte.
Der Psychiater kam mit einem dicken Buch zurück. »Das
Lexikon der magischen Künste von Horst Biedermann«, sagte
er. »Ein ausgezeichnetes Werk. Hier, lies.« Er hatte das
Stichwort Beschwörung aufgeschlagen und hielt es Arved
unter die Nase:
Arved las laut vor: »Beschwörung, lat. Conjuratio, allg.
ein Anreden der Dämonen bzw. des Satans, das den Zwang
enthält, Antwort geben oder gehorchen zu müssen. Eine B.
ist daher auch der Exorcismus, bei welchem Dämonen zum Ausfahren
aus Besessenen gezwungen werden. Häufiger wird der Ausdruck B.
im Sinne von Zitierung (citatio daemonum, eigentl. Vorladung der
Dämonen) gebraucht, vor allem in den populären
Zauberbüchern, wie z.B. den Höllenzwängen und
Grimoires. Bevorzugte Orte für die B. sind einerseits verrufene
Plätze (Ruinen, Galgenberge), andererseits Kreuzwege. Hier wird
ein mag. Zirkel (Zauberkreis) auf den Boden gezeichnet, der ringsum
mit Characteres und den Namen von Engeln und Dämonen beschriftet
wird. Der Nigromant darf sich durch keine List der erscheinenden
Dämonen verleiten lassen, diesen Kreis zu verlassen, da er ihnen
sonst wehrlos ausgeliefert ist. Oft ist von Räucherungen die
Rede, die dämon. Wesen herbeiziehen sollen.« Der Artikel
war noch nicht zu Ende, aber Arved klappte das Buch zu. »Glaubst
du an so etwas?«, fragte er, als er den Blick von dem
erstaunlichen und beängstigenden Artikel hob.
Thomas hatte sich wieder auf eine halbwegs freie Stelle der Couch
gesetzt und zuckte die Achseln. »Ich weiß, dass es
satanistische Zirkel gibt, und ich weiß auch, dass sie ihren
Riten eine große Macht beilegen. Diese Macht kann
natürlich immer nur eine psychische sein; das wissen wir beide
sehr wohl. Vielleicht spielen halluzinogene Substanzen dabei eine
Rolle; vielleicht hat Jürgen Meisen unwissentlich etwas davon
gekostet und ist daran gestorben.«
»Aber wieso war der Sarg leer?«, fragte Arved.
»Möglicherweise doch ein Versehen oder eine
Verwechslung.«
»Und wieso ist Magdalena Meisen vor meinen Augen
verschwunden?«
»Eine Halluzination, genau wie ihr Erscheinen in deinen
Träumen oder in jenem Baum.«
»Und die schwarze Gestalt im Wald? Die hast du ebenfalls
gesehen.«
»Ein Wanderer – oder eine Wanderin.«
»Man kann alles wegerklären.«
»Und man kann alles auf übernatürliche Weise
erklären. Hast du mir nicht heute Morgen stolz berichtet, du
glaubst nicht mehr an Gott und das Transzendente?«, gab Thomas
müde zurück. Er lehnte sich auf dem zerschlissenen Sofa
gegen einen Klumpen schmutziger Wäsche und legte die Beine
übereinander, was ihn beträchtliche Anstrengung zu kosten
schien. »Willst du dich etwa sofort wieder an die Krücke
Gott klammern, sobald etwas geschieht, das du nicht
verstehst?«
Arved seufzte. Thomas hatte Recht. Er beugte sich in seinem Sessel
vor, stützte den Kopf in beide Hände und murmelte:
»Sicher ist nur, dass hier etwas passiert ist, auf das weder
Magdalena noch ich einen Einfluss haben.«
»Lass diese Magdalena aus dem Spiel. Es ist nur zu deutlich,
dass du dich in sie verliebt hast. Erstens scheint sie zu jung
für
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