Hexensabbat
abend, obwohl die Kinder mit dem Babysitter zu Hause geblieben waren. Till hatte ausdrücklich nur die Erwachsenen eingeladen. Waltraud konnte sich einfach nicht von den Kindern lösen.
Als Julius gegangen war, blieb Anna noch eine Weile im Dunkeln sitzen. Die CD war zu Ende, und die Kerze hatte sie vorsorglich ausgemacht, als sie Julius zur Tür begleitete. »Es liegt noch alles vor uns«, hatte er eben gesagt, und sie waren sich sehr nahe gewesen, sie beide. Aber dann war er wieder weit weg, abgetaucht in seinen Alltag, der würde ihn genauso wenig loslassen wie ihr Alltag. Sie waren eben keine vierzehn mehr. Mit fünfunddreißig konnte man nicht mehr ganz neu anfangen.
Sie stand auf, räumte die halbleere Weinflasche weg, spülte die beiden Weingläser und stellte die Blumen von Julius nach draußen in den kleinen Wintergarten. Sie gähnte. Es hatte keinen Zweck, auf Till zu warten. Sie nahm sich eine Rolle Kekse und ein Glas Milch mit ans Bett. Sie hatte keine Lust, für sich allein etwas zu richten.
Halbmast
»Post!« Die Stimme dröhnte aus der Sprechanlage, überlaut, jedenfalls empfand Anna das so, sie war noch ziemlich müde.
»So früh?« fragte sie in den Hörer. Till war eben erst gegangen, er war reichlich verkatert gewesen nach seiner Kegeltour. »Es war das absolute Besäufnis«, hatte er beim Frühstück gesagt und nur schwarzen Kaffee getrunken. Anna war noch im Morgenrock und ungekämmt, der Briefträger kam gewöhnlich erst gegen elf. Sie hatte keine Lust, in diesem Aufzug die Tür aufzumachen.
»Städtische Post«, dröhnte die Stimme.
»Ach so.« Anna überlegte, vielleicht wieder ein Strafmandat für Till wegen Falschparken?
»Was ist nun, machen Sie auf?«
»Ja, ja.« Sie mußte immer noch suchen, welcher Schalter der richtige war. Es gab vier Stück übereinander, bis vor kurzem waren es nur drei gewesen, aber weil ein paarmal Kinder auf dem Vorgartentor geschaukelt und es nicht mal wieder ordentlich zugemacht hatten, »überall Hundekacke!«, hatte Till das halbhohe Tor zur Straße hin in die elektrische Schließanlage einbeziehen lassen. Der zweite Schalter von unten war es, sie hörte das Quietschen des Törchens und dann die Schritte über das nachgemachte Kopfsteinpflaster auf die Haustür zukommen. Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und streckte den Arm durch: »Danke«, sagte sie.
Der Mann brummte etwas und ging. Anna riß den Umschlag auf. »Amtsgericht«, stand auf dem Briefkopf, der Brief war an sie adressiert. Drei Zeilen, mehr nicht, es fing an »wir bedauern …«. Anna las nicht sofort weiter, in ihrem Bauch rumorte es, sie nahm den grünen Umschlag und das stumpfweiße Papier mit aufs Klo, aber sie mußte wohl doch nicht, sie hockte auf der Klobrille und las den Brief zu Ende. Man bedauerte, nicht ihrem Wunsch entsprechen zu können, aufgrund der großen Nachfrage stehe zum ersten Februar keine Referendariatsstelle am Amtsgericht Köln zur Verfügung. Sie las, und es war, als ob ihr großer Triumph im Sturzflug an ihr vorbeischösse, Ende, alles aus, aus der Traum. Sie sah Tills Gesicht vor sich, »du lebst hier in einem Wolkenkuckucksheim«, das hatte er erst vor ein paar Tagen gesagt.
Sie knüllte das Papier zusammen, am liebsten hätte sie es ins Klo geschmissen, aber sie dachte an Till, wie er den Beweis ihrer Niederlage aus dem verstopften Rohr fischen würde, »ach so ist das!« Da warf sie die städtische Post in den normalen Müll.
Später holte sie den Brief wieder heraus, glättete das Papier und wischte die Kaffeemehlkrümel ab. »… in einem Vierteljahr«, stand da auch noch. Sie griff zum Telefon und wählte, es war lange besetzt, sie stellte sich eine Flut von diesen grünen Briefen und einen Sturm der Empörung vor, vielleicht war sie nicht die einzige, die so kurzfristig eine Absage erhielt?
»Es tut uns wirklich leid«, sagte die Frau am anderen Ende, als Anna endlich durchkam. »Köln ist einfach überfüllt, und Sie haben nicht einmal soziale Punkte.« Anna wußte, daß sie keine »sozialen Punkte« vorweisen konnte, sie hatte weder Kinder noch eine pflegebedürftige Mutter im Haus. »In einem Vierteljahr sieht das schon besser aus«, schloß die Frau, »Sie sind jedenfalls vorgemerkt bei uns. Oder haben Sie es sich anders überlegt?« Anna schüttelte den Kopf. »Hallo, sind Sie noch dran?« fragte die Frau. »Ja«, antwortete Anna und fügte hastig hinzu: »Nein, meine ich, ich habe es mir nicht anders überlegt.« – »Sie erhalten
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