Hexenseelen - Roman
nicht. Aber die Wahrheit sagte sie ebenso wenig. Weil die Wahrheit anders … schmeckte.
Für diese Erkenntnis musste sie teuer bezahlen, denn
die Larven fraßen nicht nur die Gefühle der Frau, sondern auch ihre eigenen. Fraßen sie leer und hinterließen Seelenschutt und Schwermut. Sie musste das Dunkle in sich bezwingen. Jetzt, auf der Stelle. Und ihm niemals erlauben, hervorzutreten.
Der Klumpen war inzwischen auf die Größe einer Melone angewachsen. Einer der Würmer schien sich an ihrem Rückgrat emporzuwinden, um in ihr Hirn vorzustoßen. Sie hielt den Atem an und unterdrückte alle Empfindungen. Vor allem aber hütete sie sich davor, die Gefühlsregungen der Frau an sich heranzulassen, denn genau danach gierten die Parasiten.
Es gelang, der Klumpen löste sich auf, als hätte jemand geronnenes Blut zwischen den Fingern zerrieben. Die Larven fielen auseinander, vermischten sich mit ihrem Wesen, mit jeder Zelle ihres Körpers.
Erschöpft fuhr sie sich mit einer Hand über die Stirn. »Es ist alles so durcheinander hier drin. So viele Gesichter, Orte, die ich kennen müsste und dennoch einander nicht zuordnen kann. Ich weiß nicht einmal, wie ich heiße.«
Und wem ich trauen darf.
Die Frau erhob sich und musste sich an der Kommode festhalten. »Ylva. Dein Name ist Ylva. Ein sehr schöner Name, wie ich finde.«
Sie hatte gehofft, mit dem Namen würden ihre Identität und ihre Erinnerungen zurückkehren. Doch er klang fremd. Genauso gut hätte sie Walpurga-Burglinde heißen können. Oder verbarg sich da doch etwas, was ihr
wieder einfallen wollte? Sie lauschte in sich hinein und konzentrierte sich auf ihre Wahrnehmung, während sie die zwei Silben lautlos wiederholte, als würde sie diese - wie die Gefühle der Frau zuvor - erschmecken wollen: Ylva, Ylva, Ylva … Ja. Das war der Name, bei dem der junge Mann aus ihren Erinnerungen sie rief. Es gefiel ihr, wie das Wort aus seinem Mund geklungen hatte, und sie begann, ihren Namen zu mögen. Und den jungen Mann.
»Gut. Ich hatte schon Schlimmeres befürchtet. Sind wir verwandt?« Auf keinen Fall wollte sie zeigen, was in ihr vorging. Denn noch wusste sie nicht, wie sie mit den neu erlangten Gefühlen umgehen sollte. Diese Zuneigung zu einem Fremden irritierte sie.
»Ich bin so etwas wie deine Mutter. Hör zu. Ich muss noch etwas erledigen, aber wenn ich zurück bin, werde ich dir alles erklären, okay? In dieser Zeit … versuch dich zu waschen. Schaffst du das?« Sie stieß eine Tür zu ihrer Rechten auf. Dahinter verbarg sich eine winzige Dusche. »Hier ist das Bad. Im Schlafzimmer findest du ein paar Sachen, die ich für dich gekauft habe. Ich hoffe, sie passen dir. Solltest du nicht klarkommen - mach dir nichts draus. Wenn ich wieder zurück bin, helfe ich dir. In Ordnung?«
Ylva schaute an sich herunter. »Ich schätze, das Waschen habe ich bitter nötig.«
Natürlich würde sie das nicht tun, sondern abhauen, sobald sie eine Gelegenheit dazu bekam. Aber im Augenblick sollte sie mitspielen und am besten zu allem Ja und Amen sagen. Und so vielleicht ihrem Gefängnis entkommen.
»Gut.« Die Frau trat näher, legte die Arme um sie und zog Ylva an sich heran. Der Nager quiekte. Auch Ylva wollte protestieren, sich der Umarmung entwinden, und blieb trotzdem still. Gegen ihren eigenen Willen. Etwas fesselte sie an die Frau und machte jeden Widerstand zunichte.
»Mach dir keine Sorgen«, erklang Linneas Stimme in ihren Ohren. »Ich lasse Smaragda bei dir. Sie passt auf dich auf. Und ich schicke dir jemanden vorbei, der auf dich achtgibt, solange ich nicht da bin.«
In tiefen, regelmäßigen Zügen sog Ylva den Geruch der Fremden ein, der plötzlich allgegenwärtig schien und sogar ihren eigenen Gestank überlagerte. Ihr Kopf wurde schwer, die Gedanken träge. Die Muskeln entspannten sich, und ein wohliges Gefühl besänftigte ihre Seele. Auf einmal konnte sie nicht mehr begreifen, warum sie sich so heftig gegen die Umarmung gewehrt hatte. Oder - was für ein lächerlicher Gedanke! - hatte abhauen wollen. Das war doch ihre Freundin, ihre Mutter, ihre … Königin.
»Wer ist Smaragda?«, hörte Ylva sich fragen. Es kam ihr vor, als würde sie in einer Duftwolke dahinschweben und sich darin völlig auflösen. Immer wieder holte sie tief Luft, füllte ihr ganzes Wesen mit dem Geruch der Frau.
»Meine Schlange.« Linnea ließ von ihr ab. Ylva stöhnte auf, hungrig nach Wärme, Zuneigung und … dem Duft. Plötzlich befürchtete sie, all das zu verlieren,
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