Hexenseelen - Roman
der sie sich befand, war still. Zumindest ihrem ersten Eindruck nach. Obwohl durch die Wand, die das Schlafzimmer von einem anderen Zimmer trennte, ein Wuseln wie von Mäusen zu hören war. Sonst nichts. Interessant, vor allem, weil die Einrichtung und der Raum selbst nicht darauf schließen ließen, dass es hier Schädlinge gab.
Sie schnupperte. Doch außer ihrem eigenen Gestank - und sie stank erbärmlich, das fiel ihr auf - konnte sie kaum etwas wahrnehmen.
Auf allen vieren kroch sie aus dem Käfig und richtete sich im Freien auf. Sofort zwang ein Schwindelanfall sie zurück in die Knie. Okay. Schon verstanden. Alles langsam angehen.
Der Nager lief zu ihr und kletterte auf ihre Schulter. Das Pieken der winzigen Krallen erinnerte sie an den kürzlichen Anfall. Sie schrie auf und stieß das Tier von
sich, das auf den Boden klatschte. Es sprang auf und schüttelte den Kopf. Verdutzt starrte es sie an, traute sich aber nicht mehr heran. Der Ausbruch tat ihr wirklich leid. Sollte sie sich bei dem Nager entschuldigen? Normalerweise machte man das nicht. Menschen machten das nicht, intuitiv wusste sie das. Doch gegenüber diesem Exemplar war sie sich nicht sicher, nicht nach all dem, was vorgefallen war.
»Hab’s nicht so gemeint«, murmelte sie. »Frieden?«
Die Ratte zählte anscheinend nicht zu den nachtragenden Gemütern, denn sie kam näher und kauerte sich neben ihren Fuß. Dieses Tier würde sie nicht so schnell loswerden, so viel stand fest.
Ihr Körper fühlte sich schlapp an, ermattet und entkräftet. Ganz anders als ihr Geist, dem alles zu langsam voranzugehen schien und der nach Taten strebte. Sie setzte sich auf die Fersen und inspizierte die Kleiderfetzen, in die sie gehüllt war. Mit zwei Fingern hob sie den Saum an und rümpfte die Nase. Igitt. Der Stoff roch so, als hätte sie in den letzten Monaten - ach was: Jahren! - in einer Kanalisation geschlafen. Und darin vermutlich gebadet. Hastig riss sie sich die Fetzen vom Körper, angeekelt von sich selbst.
Nun aber. Es war höchste Zeit zu fliehen. Vorsichtig schritt sie zur Tür, öffnete sie und spähte durch den Spalt in den Flur.
Was auch immer sie dort zu sehen erwartet hatte - eine leblose Frau auf dem Boden gehörte nicht dazu.
Kapitel 2
D ie Atmung überprüfen. Nach dem Puls tasten. Ganz schwach pochte es unter ihren Fingern, die sie an den Hals der Bewusstlosen drückte. Und weiter? Wie sollte sie jemandem helfen, wenn sie nicht einmal in der Lage war, sich selbst zu helfen? Abhauen sollte sie, solange sie konnte, das war doch ihr Plan. Ein richtig guter Plan unter den gegebenen Umständen. Also halt dich gefälligst daran!
Sie erhob sich und schritt über die Frau hinweg zur Eingangstür, die einen Spalt offen stand. Nach einem weiteren Schritt hielt sie inne und blickte zurück. Die Bewusstlose kam ihr bekannt vor.
Unruhe erfasste sie. Kannten sie sich?
Die Fremde sah aus wie Mitte zwanzig, das herzförmige Gesicht zeugte von sanfter Schönheit, und das hüftlange bronzefarbene Haar hüllte die zierliche Gestalt beinahe vollständig ein. Was, wenn sie gerade dabei war, eine Freundin zu verraten?
Quatsch, denk an deine eigenen Probleme, und kümmere dich um dich selbst. Oder willst du wieder in einem Käfig landen?
Nein, das wollte sie ganz und gar nicht. Was dann?
Der Nager, der ein Stück vorgelaufen war, kam zurück. Er wippte auf den Hinterpfoten und versuchte, sie mit einem eindringlichen Fiepen zum Weitergehen zu bewegen. Sie hingegen stand einfach da und konnte sich nicht entscheiden.
Letztendlich war es das Gesicht des jungen Mannes in ihrem Kopf, das sie dazu veranlasste, zu bleiben. Läge er anstelle dieser Frau hier, würde sie ihn nicht im Stich lassen. Man ging nicht einfach weg, wenn sich jemand in Not befand. Und vielleicht konnte ihr diese Unbekannte Hinweise liefern, die ihr diesen ganzen Schlamassel erklären und … sie zu ihm führen würden. Denn eines stand fest: Sie musste den jungen Mann finden. Unbedingt.
Mit vorsichtigen Griffen untersuchte sie die Bewusstlose. Keine sichtbaren Verletzungen, die diesen scheintoten Zustand verursacht haben konnten. Mit ihrem Zeigefinger strich sie der Frau die Haarsträhnen aus dem Gesicht und fuhr erschrocken zurück. Wulstige Narben kennzeichneten die linke Seite, das Ohr fehlte, nur ein roter Stummel war geblieben. Der Anblick schmerzte.
»Was hast du bloß erlebt?«, wisperte sie und fuhr mit einem Finger an der Wange und dem zierlichen Kinn entlang. Die Haut
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