Hexenseelen - Roman
Ylva, die …«
»Oh, meine Süße, mir musst du nichts erklären.« Die schwarzen Augen, die zwei polierten Obsidianen glichen, blitzten auf. »Ich bin mir sicher, der Messias wird dafür Verständnis aufbringen. Du hast Recht, wie hättest du diese Wendung der Ereignisse vorausahnen sollen.«
Die Hand unterbrach das Spiel mit der Kette. Stella taumelte erschrocken zurück und stieß mit dem Kopf gegen die Schilder der in dem Gebäude untergebrachten Büros. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, Oya würde sie tatsächlich berühren und für ihr Versagen bestrafen. Sie schloss die Augen und wartete auf das Ungewisse.
»Hast du Angst?« Der Savannenwind trug die Frage an ihr Ohr und hüllte sie einen Herzschlag lang in trockene Hitze ein, mitten im norddeutschen Regenschauer.
Stella nickte.
»Musst du nicht. Wenn du begreifst, dass der Fluch nicht die Ewigkeit, sondern die Sterblichkeit mit sich bringt. Wenn du erkennst, dass du auserwählt wurdest, um diese Welt zu verändern. Wie auch die anderen deiner Art. Vom Schicksal gezeichnet, aber von der Zeit des Universums beschenkt. Verstehst du?«
Wieder nickte Stella, weil sie nicken musste. Obwohl ihr Hirn sich weigerte, all dem zu folgen. Doch hatte nicht auch der Messias davon gesprochen, dass die Nachzehrer in Wirklichkeit die Auserwählten waren, die ihr Kreuz mit Stolz tragen sollten? Der Fluch hatte ihnen das Leben und die geliebten Menschen geraubt, aber mussten nicht alle Propheten zuerst alles verlieren, um danach wahrlich Heiliges zu erfahren? Und sie glaubte dem Messias. Allein deshalb, weil sie an die Sinnlosigkeit ihres Daseins nicht glauben wollte.
»Mir wird kein Fehler mehr unterlaufen«, versprach Stella ehrfürchtig und forschte in Oyas Gesicht, das keinerlei
Regung zeigte. »Der Erlöser und du, ihr werdet nicht enttäuscht sein.«
»Da bin ich mir sicher, meine Süße. Denn wir brauchen dich. Für etwas so derart Großes, dass du es nicht mit deinem Verstand erfassen kannst, glaub mir.« Eine Böe trieb den Regen in den Hauseingang. Die Tropfen perlten von Oyas Haut ab wie von der Oberfläche einer Lotusblüte. So, als gäbe es nichts auf dieser Welt, was eine Mächtige berühren konnte, während all die anderen durchnässten Gestalten im Wind froren.
»Und wozu benötigt der Erlöser dieses Metamorph-Mädchen?«, fragte Stella und biss sich auf die Zunge. Hatte sie es tatsächlich gewagt, die Handlungen des Messias zu hinterfragen?
»Du hast selbst erlebt, wozu dieses schmächtige, halb verhungerte Wesen tatsächlich fähig ist. Der Dämon, den es in sich trägt, ist ein Teil des Schattenreiches, und es wird mir grundsätzlich gehorchen. Doch wenn es lernt, den Dämon zu lenken und zu kontrollieren, dann wird es zu einem gefährlichen Gegner.« In den schwarzen Augen loderte Zorn empor. Die Hexe stemmte ihre Hand gegen die Wand und kratzte mit den Fingernägeln über den Backstein. »Dass es uns überhaupt abhandengekommen ist, hätte niemals geschehen dürfen! Aber nun ist es passiert. So müssen wir uns jetzt zurückholen, was uns gehört.«
Stellas Herz begann zu hämmern, als sie das Gesicht der Mächtigen so nah vor sich sah. Eine innere Stimme flüsterte ihr zu, die Hexe würde nicht die ganze Wahrheit
sagen, aber vielleicht waren einige Geheimnisse einfach nicht für sie bestimmt. Nicht, solange sie die ihr übertragene Aufgabe nicht erfüllt, solange sie nicht bewiesen hatte, würdig zu sein. Aber irgendwann … irgendwann würde sie ganz sicher in den Kreis der Höheren aufsteigen, sie befand sich so kurz davor!
»Ich gebe dir einen Tipp, wie du alles wieder in Ordnung bringen kannst.« Oyas feuchtwarmer Atem, der nach Papaya duftete, streifte Stellas Wange. »Conrad und die anderen haben sich in seinem Laden verschanzt. Das Mädchen ist ebenfalls dort. Wenn du schnell genug zuschlägst, bist du im Vorteil, denn sie sind vom letzten Kampf geschwächt.«
Je länger Stella in die schwarzen Augen starrte, desto mehr bekam sie das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es erfüllte sie mit Ehrfurcht, die Macht der Hexe am eigenen Leib zu spüren.
»Woher weißt du das?« Für einen Augenblick hielt sie inne. Hatte sie die Mächtige beleidigt? Doch Oya lachte melodisch auf, lachte ohne Freude und Herzlichkeit, aber auf eine Weise, die Stellas Verstand vollkommen betörte.
»Ich habe einen Vertrauten in Conrads Reihen, der mir alles verrät, was ich wissen will. Glaub mir, jetzt ist die beste Zeit, um die
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