Hexenseelen - Roman
Messias meinte: Die Untoten oder die Menschenbrut, die sich hier zusammengeschart hatte? Doch noch bevor sie ihren Gedanken weiterdenken
konnte, machte der Erlöser eine weit ausholende Geste. »Nachzehrer, ihr, mit dem Fluch Gezeichnete, schaut euch um!« Seine Stimme wurde lauter, vibrierte fast. »Menschen, ihr, von der Gesellschaft unterdrückte, schaut euch um. Unterscheiden wir uns wirklich so sehr voneinander?«
Tatsächlich folgten die meisten seiner Aufforderung und sahen in die Gesichter der Nachbarn. Zuerst zögernd und mit Argwohn, dann offener, mit unverhüllter Neugier. Auch Stella ließ ihren Blick schweifen, bis er schließlich an einem der Streithähne hängenblieb. Nun erkannte sie den Jungen. Cerim. Der, der seinem Gegenüber so hilfsbereit vorgeschlagen hatte, sich um seine Zahnpflege zu kümmern. Wie alt mochte er sein? Siebzehn? Ungefähr so alt wie sie, als sie gestorben war. Und genauso wie sie würde auch er vermutlich sterben, wenn nicht in diesem Streit, dann in einem anderen. Und bis es so weit war - musste nicht auch er Verfolgung, Unterdrückung und Angst kennenlernen?
»Wir sind keine zwei Spezies«, fuhr der Messias fort, diesmal etwas milder, »wir sind eine Rasse, die Menschenrasse, nur haben einige von uns das vergessen. Wir alle haben eines gemeinsam: Wir wollen leben. Obwohl unsere Feinde uns jagen, uns wie Tiere einsperren, uns quälen. Obwohl die Gesellschaft von uns nichts weiß oder nichts wissen will. Wir leben. Ja, wir leben!«
Stella schloss die Augen. Tonlos bewegte sie ihre Lippen und die Zunge, kostete die zwei einfachen Silben: Le-ben. Es war so erschreckend einfach gewesen, es zu
vergessen, und zum Glück so leicht, sich daran zu erinnern.
Sie lebte.
Und nicht einmal der Tod konnte etwas daran ändern. Denn der Tod bedeutete bloß einen neuen Lebensabschnitt, eine weitere Erfahrung, die sie machte. Wie das erste Mal Fahrradfahren. Wie der erste Sex.
Und warum musste sie sich selbst verleugnen, nur weil sie untot und damit anders war? Brauchten etwa Schwule sich noch zu verstecken? Oder Juden? Oder Farbige? Predigte die moderne, aufgeklärte Gesellschaft etwa nicht, dass alle gleiche Rechte genießen sollten, egal, welche Religion, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung sie hatten? Warum sollte es dann beim Körperzustand anders sein?
Verdammt nochmal, warum durfte sie sich dann nicht outen, warum musste sie …
»… sich noch länger verstecken?«, sprach der Messias in die gebannte Menge, und in jedem einzelnen Wort schien pure Energie zu pulsieren. »Wir müssen uns nicht schämen, für das, wozu wir gemacht wurden. Durch den Fluch oder die Gesellschaft. Denn wir sind Kraft. Wir sind die wahre Macht. Wir wurden dazu auserwählt, diese Welt zu verändern. Gemeinsam werden wir eine neue Ordnung formen. Obwohl unsere Feinde uns vernichten wollen, obwohl die Verblendeten in ihrer Wut auf uns alles daransetzen, uns aufzuhalten. Ja, ich sage euch: Das werden sie nicht schaffen. Erhebt euch! Denn diese Welt braucht uns, Tote und Lebende.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Einige zweifelten noch, gefangen in alten Vorstellungen. In Angst vor den Feinden, vor Ungewissheit, vor dem Neuen. Noch fehlte ihnen der Glaube an ihr Tun und an den Erlöser.
Der Messias erhob abermals die Arme, und das Raunen verstummte. »Vielleicht denken manche: Der hat gut reden. Der ist ein Nachzehrer. Ein Untoter mit übernatürlichen Kräften. Doch auch ihr seid die Auserwählten, ihr alle, die ihr meinem Aufruf folgt. Ich bin hier, um mit euch meine Fähigkeiten zu teilen. Wenn die Zeit dazu reif ist und ihr - stark genug, werde ich euch Dämonen schenken, die euch schützen und euch unbesiegbar machen werden. Und dann wird es keiner mehr wagen, sich euch in den Weg zu stellen. Hört ihr? Ihr werdet die Kraft erlangen, eurem Weg zu folgen und diese Welt nach euren Wünschen zu formen. Wollt ihr das?«
Wieder raunte die Menge, doch diesmal griffen Begeisterung und Zuversicht um sich, und das Raunen schlug in ein Johlen um.
»Wollt ihr eine neue Ordnung?«, rief der Erlöser. »Wollt ihr leben?«
Das Johlen steigerte sich immer mehr.
»Sagt mir, was ihr wollt!«, forderte der Messias.
Stella fing Cerims Blick auf, in dem Tatendrang und Hoffnung schimmerten. Sie lächelte ihm zu, ergriffen von ähnlichen Gefühlen. Er erwiderte ihr Lächeln.
»Sagt es mir!«, fegte der Ruf des Erlösers durch die Versammelten.
»Wir wollen leben!«, brüllte Stella aus Leibeskräften,
und ihr
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