Hexenspiel. Psychokrimi: Ein Psychokrimi (German Edition)
beide Männer an den Hemdsärmeln und zerrte sie zurück in den Gastraum.
Wagner stand da und starrte auf seine geballte Faust. Dann drosch er auf die Tischplatte ein. Einmal, zweimal, dreimal, bis die Knöchel seiner Finger zu bluten begannen. Jetzt war auch der Wirt hereingekommen und sah ihn fassungslos an. Wagner leckte seine Fingerknöchel ab, holte mit der anderen Hand ein paar Geldscheine aus seiner Hosentasche und warf sie auf den Tisch. Es war viel mehr, als der grauenhafte Kaffee kostete.
„Da. Der Rest ist für Christina.“
Seine Stimme hörte sich an, als käme sie von einer alten, zerkratzten Grammophonplatte. Dann nahm Wagner ein paar Papierservietten vom Tisch, presste sie auf seine schmerzende Hand und verließ grußlos den Gasthof.
W elche bösen Geister waren nun wieder aufgewacht? Welche Bilder, welche Geschichten kamen jetzt wieder hoch? Geschichten, die doch schon so lang begraben waren, eingesargt und versenkt auf dem Friedhof der nutzlosen Erinnerungen. Warum streckten sie auf einmal ihre kalten Hände aus der Tiefe, griffen nach ihm und ließen ihn nicht schlafen?
Wagner wälzte sich schweißgebadet in seinem Bett.
Geh weg, Julia, stöhnte er. Geh weg. Verschwinde. Lass mich in Ruhe. Was willst du von mir? Du hast mich zwölf Jahre lang gequält. Ist dir das noch nicht genug? Ich hab dich nie gemocht. Nicht, als du auf die Welt gekommen bist, und jetzt schon gar nicht. Hau ab, Julia. Geh zurück, woher du gekommen bist. Du bist tot, Julia. Tot, tot, tot.
Immer hat sich alles nur um dich gedreht. Von Anfang an warst nur du wichtig. Wie’s dir geht, wie du dich fühlst, ob du was brauchst, um nichts anderes ist es mehr gegangen. Und um mich schon gar nicht. Weil ich war ja jetzt auf einmal der große Bruder. Seit ich fünf war, war ich der große Bruder und hab vernünftig sein müssen. Der große Bruder, der sein kleines Schwesterchen doch so lieb hat und immer brav Rücksicht auf die kleine Julia nimmt, weil sie doch so schwach und blass und arm und kränklich ist. Der große Bruder, der dauernd ganz still ist, damit die kleine Julia schlafen kann, der auf sie aufpasst und ihr Geschichten vorliest und sie auf seinen Knien stundenlang hoppe-hoppe-Reiter machen lässt und so tut, als würde es ihm irrsinnigen Spaß bereiten, wenn sie ihm dabei die Hälfte ihrer letzten Mahlzeit ins Gesicht spuckt. Der große Bruder, der keine Spielzeugeisenbahnbekommt, weil sich das kleine Schwesterchen eine teure Puppe gewünscht hat, die Mama und Papa sagen und auf Knopfdruck Tränen aus ihren blauen Augen fließen lassen kann. Der große Bruder, der für die liebe kleine Julia die Schulaufgaben macht, weil sie sonst vor den Eltern behauptet, er hätte die Kochschokolade gegessen, die in Wahrheit sie am Tag zuvor aus der Speisekammer gestohlen hat. Wofür hätte dich dieser große Bruder lieben sollen, Julia? Dafür, dass er kein Kind mehr sein durfte, seit du auf der Welt warst?
Ich habe dich gehasst, Julia. Aus tiefster Seele habe ich dich gehasst. Zum Teufel hab ich dich gewünscht. Dich und das ganze Theater, das man um dich gemacht hat wegen deiner Krankheit. Und wie du sie ausgenutzt hast, um uns alle zu beherrschen und deinen Kopf durchzusetzen. Wenn du etwas unbedingt haben wolltest, hast du einfach die Augen verdreht und behauptet, dass dir schlecht wird, und schon hast du es gekriegt. Allen hast du Angst gemacht, das war deine Methode, gib’s doch zu. Alle haben immer geglaubt, wenn sie nicht machen, was du willst, dann stirbst du. Und du hast jedes Mal gewonnen. Aber zum Schluss, Julia, zum Schluss hab ich gewonnen.
Ich hab mir gewünscht, dass du tot bist. So sehr hab ich mir das gewünscht, damals mit neun oder zehn Jahren, und da hab ich deine blöde Puppe genommen und so lang im Waschbecken unters Wasser getaucht, bis sie kaputt war. Ja, das war ich. Jetzt weißt du, warum sie auf einmal nicht mehr Mama und Papa gesagt hat und auch nicht mehr weinen konnte. Nichts als eine stumme, tote Puppe. Ich weiß, dir war das damals egal, weil du hast ja gleich eine neue Puppe bekommen. Aber ich hab nicht aufgegeben. All die Jahre nicht. Ich hab’s mir gewünscht, immer und immer wieder gewünscht. Und eines Tages ist es dann endlich geschehen und mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Es war nicht die Leukämie, Julia. Es war, weil ich es mir gewünscht habe.
Als du gestorben bist, war ich siebzehn. Zu spät für mich. Du hast gründlich gearbeitet, Julia. Ich kann mit Kindern nichts
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