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Hexenstein

Hexenstein

Titel: Hexenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Maria Soedher
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schockierend.«
    »Gibt es denn Heilungschancen?«
    »Bei jungen Menschen bis zu fünfzehn Prozent, also eine sehr geringe Rate.«
    Schielin schüttelte fassungslos den Kopf. Es war eine Sackgasse, in der er steckte. Die Ärztin versuchte weiterzuerklären. »Wir alle existieren im Grunde nur aus unserer Erinnerung. Was uns als Menschen ausmacht, ist die Erinnerung an das Gewesene und es ist nicht nur unser eigenes Erinnern, sondern das kollektive Erinnern der uns streifenden, umgebenden, begleitenden und mit uns lebenden Menschen. In unserer Erinnerung sehen wir uns selbst als unser eigener Doppelgänger und rekonstruieren uns aus diesem Bild – selbst; diese Selbstkonstruktion läuft permanent in uns ab; ein sehr komplexer Vorgang. Sich selbst zu erkennen ist etwas ganz Wesentliches. Sie haben vorhin erlebt, wie Frau Kohn ganz überrascht sagte – ›Das bin ja ich!‹, als sie das Foto sah.«
    »Sie erkennt sich also selbst«, sagte Schielin.
    »Ja. Ihr Äußeres, ihr Spiegelbild. Sie weiß aber nicht, wo dieses Spiegelbild sozial verhaftet ist. Unsere Identität ist ja nicht genetisch vererbt, sondern ein Ergebnis hochkomplexer, sozialer Prozesse. Übrigens – dass Identität etwas mit Unverwechselbarkeit zu tun hat, also etwas Individuelles ist, das ist eine sehr moderne Denkweise. Eine gewissermaßen persönliche Identität kommt erst mit der Aufklärung und ihren Vorläufern in unser Bewusstsein – cogito ergo sum: Ich denke, also bin ich … Sie wissen? … Descartes? … Aber auch schon mit der Reformation, in welcher Luther den einzelnen Menschen Gott direkt gegenüberstellt … das geht ja nur mit einem Individuum, nicht wahr.«
    Schielin nickte, ebenso Jasmin Gangbacher, obgleich sie von dem eben Gehörten völlig überfahren waren. Die Ärztin setzte freundlich hinzu: »Für sie ist es doch aber gar nicht so schlimm. Die Identität von Frau Kohn ist ja erfasst – Sie werden sicher einen Ausweis von ihr gefunden haben, also haben Sie die über das blanke Erinnern hinausgehenden Daten ihrer Identität, wie sie in unseren Gesellschaften erforderlich ist – eine Identitätskarte. Etwas mager sicher, aber immerhin etwas. Obwohl Frau Kohn nicht mehr weiß Frau Kohn zu sein, können wir mit diesem neckischen Papierchen alles Weitere in die Wege leiten – zum Beispiel die Abrechnung mit der Krankenkasse, wobei wir wieder bei den wichtigen formellen Dingen wären.«
    Schielin nickte schnell. Er sah an ihrem nachdenklichen Blick, dass sie nachsann und wollte keinen theoretischen Ausflug in die theoretische und praktische Identitätsbildung anderer Gesellschaften riskieren.
    Sie schien das Gesuchte in ihrer Erinnerung gefunden zu haben, denn sie lachte plötzlich und sagte: »Wissen Sie, dieser kleine Witz bei uns Gehirnklempnern, der hat schon seinen tieferen Sinn …«
    Schielin sah sie erwartungsvoll an. Es gab also Witze.
    Sie sagte: »Wenn Sie nicht wissen, wer Sie sind, dann fragen Sie doch mal jemand anderen.«
    Er lachte.
    Für eine Weile erfüllte wohltuendes Schweigen den Raum. Dann fragte er: »Wie lange kann Frau Kohn hierbleiben?
    »Vorerst kein Problem. Wir kennen ja jetzt den Hintergrund und werden uns mit den entsprechenden Behörden in Verbindung setzen. Da keine Angehörigen mehr vorhanden sind, die sich um die formellen Dinge kümmern könnten, wird das Vormundschaftsgericht wohl eine vorübergehende Betreuung für sinnvoll halten. Das wird ein in solchen Angelegenheiten erfahrener Anwalt oder Notar übernehmen.«
    Schielin saß in Gedanken versunken gegenüber.
    Die Schwester kam zurück und hatte die Kleidung von Carmen Kohn, die sie bei ihrer Einlieferung getragen hatte, dabei. Sie war noch nicht gewaschen worden.

    Schielin war von dem, was er erfahren hatte, wie benommen und empfand den feinen Schweiß am Körper mit einem Mal wie ein Gefängnis. Jasmin Gangbacher fuhr schweigend in Richtung Innenstadt. In der Oberamteistraße stand dem Gedanken einer funktionalen Architektur des 19. Jahrhunderts das skurrile Erfordernis von Parkplätzen in Form von Eisengittern, Gestängen und Beton gegenüber. Aber was hätten die schon lange verstorbenen Planer von Autos wissen sollen.
    Schielin und Jasmin Gangbacher holten die polizeilichen Unterlagen über Carmen Kohn in der Geschäftsstelle ab. Es waren ein paar magere Blätter, die darüber Auskunft gaben, eine orientierungslose Person wegen Verdachts des Betruges in Gewahrsam genommen zu haben. Schielin überflog die Zeilen des Berichts aus

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