Hexenstein
gewaltiges Problem«, meinte Jasmin Gangbacher.
Die Ärztin lächelte. »Das kann man aber auch ganz anders sehen. Bei Amnesiepatienten sind es meistens die Angehörigen, die ein gewaltiges Problem haben, wie sie das nennen: Es sind ja Ehepartner, Eltern, Kinder, Geschwister, Freunde, die auf ihre Erinnerungen und emotionalen Speicher zurückgreifen können. Deren Wunsch ist es, von der Person, die ihre Erinnerung verloren hat, wiedererkannt zu werden, während der Amnesiepatient in einer völlig anders gelagertes Situation steckt – er steht Menschen gegenüber, die zu ihm eine hohe emotionale Beziehung haben, kann diese aber nicht nachempfinden und rational, also sozusagen durch Erlernen, ist es ihm nicht möglich auf die Ebene einer gemeinsamen Vergangenheit zu gelangen.«
»Also hat Carmen Kohn ja gar kein Problem«, sagte Schielin, ohne sarkastisch zu klingen.
»Inwiefern?«
»Uns ist bisher kein Mensch bekannt, der zu ihr ein näheres emotionales Verhältnis haben könnte. Ihr Mann ist tot und sonst ist da niemand. Nur ein entfernt bekanntes Ehepaar und Nachbarn.«
»Welche Möglichkeiten gibt es denn in so einem Fall. Was passiert mit diesen Menschen, die ihr Gedächtnis verloren haben?«, fragte Jasmin Gangbacher.
»Na ja. Manche Patienten erlernen ihre Vergangenheit neu. Sie trainieren ihrem Gedächtnis die erzählte Erinnerung an.«
»Sie meinen, die eigene Vergangenheit wird so gelernt, wie Lesen und Schreiben in der Schule und besteht alleine aus Erinnerungen und Geschichten, die von anderen berichtet werden – Erzählungen, Filme, Fotos?«
»Genauso ist es.«
Schielin schüttelte den Kopf. »Das geht doch gar nicht.«
»Für viele geht das nicht, weil etwas ganz Wichtiges fehlt – die emotionale Brücke. Sicher sehen die Betroffenen Fotos – von sich selbst und ihren Kindern, von Eltern, Freunden, Verwanden. Sie suchen Orte auf, die für ihr bisheriges Leben von Bedeutung waren: Wohnungen, Schulen, Arbeitsstellen … und so weiter. Aber wenn die Erinnerung an die Geburt, an die Geschichte des gemeinsamen Lebens verloren gegangen ist, dann ist das sehr schwierig. Diese Menschen stehen im Leben und beherrschen ihre Sprache, sie können die Dinge benennen, also was ein Tisch ist, ein Auto, eine Heizung, was sind Kleider. Aber sie können nicht sagen, das war meine Jacke, das war mein Auto, an diesem Tisch haben wir oft gesessen, hier in diesem Raum habe ich mich immer wohlgefühlt, diesen Mann, diese Frau liebe ich … verstehen Sie?«
Sie sah in zwei verunsicherte Gesichter, richtete sich auf und fragte Schielin: »Trinken Sie Wein?«
Er bejahte verdutzt.
»Das ist gut so. Dann stellen Sie sich vor, Sie öffnen und trinken eine Flasche Wein aus dem Geburtsjahrgang Ihrer Mutter und überlegen Sie nun, welche Empfindungen und Erinnerungen Sie dabei hätten. Die Zeit von der Geburt Ihrer Mutter bis zu dem Alter, ab welchem Sie eigenerlebte Erinnerung präsent haben, das ist etwa ab dem zweiten Lebensjahr der Fall, dieser Zeitabschnitt wäre für Sie durchaus nachvollziehbar – allein aus dem, was sie aus Erzählungen darüber wissen, was Sie gelesen haben, et cetera. Nun stellen Sie sich vor, Sie öffneten eine Flasche Ihres Geburtsjahrgangs, Ihres Hochzeits- oder Scheidungsjahres, oder aus einem anderen wichtigen Jahr in Ihrem Leben. Mit jedem Schluck griffen Sie auf selbst erlebte Erinnerungen zurück, reproduzierten sie wieder in Ihrer Erinnerung und erlebten sie nach. Beide Male tränken sie alten, gereiften Wein, aber es wäre doch ein Unterschied.«
Schielin wusste nicht so recht, was er davon halten sollte, dass sie alten Wein mit seinem Geburtsdatum zusammenbrachte. Er verstand aber sehr wohl, worauf sie hinauswollte. Sie verwendete eine Art Kindergeschichte, um einen Aspekt der Amnesie für ihn, den Laien, anschaulich zu machen.
Er wollte mehr wissen: »Und was geschieht mit diesen Menschen, wenn sie die Kliniken verlassen?«
»Viele fangen ein völlig neues Leben an. Ein Leben, das mit neuen Erfahrungen und Emotionen gefüllt wird, die nicht erlernt, sondern erlebt werden.«
»Das bedeutet, sie trennen sich von den Menschen, mit denen sie ihr bisheriges Leben bestritten haben?«
Sie nickte. »Aber für sie ist es keine Trennung, denn zu einer Trennung gehört die Erinnerung an die Dinge, Erlebnisse, Gefühle, die einen einmal verbunden haben, und die sind ja nicht mehr vorhanden.«
»Zumindest auf einer Seite.«
»Ja. Für die Angehörigen ist es in tiefster Weise
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