Hexenstein
Friedrichshafen. Wie war Carmen Kohn nach Friedrichshafen gekommen, ohne Geld, ohne zu wissen, was sie in Friedrichshafen wollte?
Er bedankte sich bei den Kollegen und bat Jasmin Gangbacher, nicht sofort zurück nach Lindau zu fahren, sondern Richtung Innenstadt. Er brauchte Menschen um sich, die ihn nicht kannten, und er brauchte die Offenheit und Großzügigkeit, mit der einem die Altstadt empfing. Es war der großzügige Raum rund um den Blaserturm, der dem öffentlichen Leben gelassen wurde und für eine gewisse Freude an Verschwendung sprach, die man dem Schwäbischen eigentlich nicht zugestand. Aber Ravensburg entsprach nicht den gängigen Maßstäben und Klischees, weil auch hier der Wind der Berge und des Sees sich noch in den Dächern verfing und alles weiter machte.
Jasmin Gangbacher entspannte in einem Café. Schielin musste den Stau an Emotionen, der sich in der Weissenau in seinem Innersten gebildet hatte, erst einmal durch Bewegung abhelfen. Ein störrischer Ronsard, den man hätte zerren, schieben, beschimpfen und bitten müssen, wäre jetzt gerade recht gewesen. Die Hitze hätte ihr Übriges getan, einem den blanken Menschen wieder zurückzugeben, aufgearbeitet und frei für Neues. Neues sollte bald kommen.
*
Schielin konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Kaum hatte ihn ein erster Schlummer erfasst, brachen die Träume über ihn herein. Das Schicksal Carmen Kohns machte ihm Angst. Angst davor, eines Tages aufzuwachen und Marja nicht mehr als Marja zu erkennen. Und so oft er seine zwei Gören zum Teufel gewünscht hatte – es war ihm ein Graus daran zu denken, sie auf einmal nicht mehr als die zu erkennen, die sie waren. Schlimmer aber war die andere Sicht auf die Dinge, die ihm die Ärztin eröffnet hatte. Schlimmer war es, selbst von einem Menschen, der einem etwas bedeutete, nicht mehr erkannt und als Fremder behandelt zu werden. Er wollte sich das nicht vorstellen, seine Gedanken gar nicht in dieses Dunkel wandern lassen. Es ging gut, solange er wach war, doch die Träume nahmen keine Rücksicht auf das, was man wollte, oder nicht wollte. Noch vor der Morgendämmerung stand er auf und trank zwei Gläser Wasser, während er nachsann.
Carmen Kohn war äußerlich unverletzt in Friedrichshafen aufgegriffen worden. Soweit es dem Bericht der Kollegen aus Ravensburg zu entnehmen war, hatte sie die Nacht von Montag auf Dienstag im Freien verbracht. In einem Durchgang zwischen Zeppelinhalle und Fährhafen. Einer Streife war sie dort erstmals aufgefallen. Im Laufe des Dienstag war sie dann in eines der Cafés gegangen, hatte gegessen und getrunken, ohne anschließend zahlen zu können. Erst hielt man sie für eine gewöhnliche Zechprellerin, doch ihr Äußeres, die Art und Weise, wie sie sich ausdrückte und die Tatsache, dass sie nichts bei sich führte, was auf ihre Identität hätte schließen können, hatte sie letztendlich in die Weissenau gebracht. Die Kleidung, mit der man sie aufgegriffen hatte, war noch nicht gereinigt worden. Schielin hatte beim Auspacken auf der Dienststelle festgestellt, dass nicht ein einziger Blutspritzer daran zu finden war. Auch Wenzel, der spät in der Nacht noch gekommen war, schüttelte resigniert den Kopf.
Schielin stellte das Wasserglas vorsichtig zurück auf den Tisch, um keinen Krach zu machen. Carmen Kohn hatte also ihr Gedächtnis verloren und es gab keinerlei objektive Spuren, die darauf hinwiesen, dass sie mit der Tat zu schaffen hatte. Daran hatte er auch nie wirklich geglaubt. Den Körper in die Plastiktüte zu rollen und unter den Verschlag unter der Treppe zu schaffen, hätte er der Frau, die er bislang nur von Fotos kannte, nicht zugetraut.
Für einen Augenblick überlegte er ernsthaft, ob es nicht besser war den Fall abzugeben. Im Moment wusste er so recht nicht mehr weiter und hatte das Gefühl sich im Kreise zu drehen. Dann sah er Carmen Kohn wieder vor sich, wie sie ihm interessiert zuhörte und keine Regung zeigte, weil sie keine Vorstellung von dem hatte, wer und wie ihr Mann gewesen war, weil ihr jegliche Erinnerung daran fehlte. Sie wusste über sich selbst nur, dass sie existierte. Woher die Kleider stammten, die sie trug, gehörte schon zu jenen Berichten und Erzählungen, die sie glauben musste.
Aber wenn sie mit der Mordtat nichts zu schaffen hatte – welches schockierende Erlebnis war dann für ihren Erinnerungsverlust verantwortlich? Was war an diesem verdammten Montag im Hause Kohn geschehen?
Zu viel, dachte Schielin. Es war ganz
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