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Hexenstein

Hexenstein

Titel: Hexenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Maria Soedher
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ausschließen.«
    »Und dieser Gedächtnisverlust, wie Sie sagen, der könnte aufgrund eines Schockerlebnisses eingetreten sein? Das sagten Sie doch.«
    Die Ärztin nickte ernst. Schielin spürte, wie seine Lippen arbeiteten, während er versuchte ein Vorgehen zu finden.
    »Worüber darf ich denn mit ihr reden, kann ich ihr Fotos zeigen?«
    »Bilder vom Tatort, insbesondere solche, auf denen die Leiche ihres Mannes zu sehen sind, hielte ich im derzeitigen Stadium für nicht förderlich.«
    »Nein, nein. Das hatte ich auch gar nicht vor. Nur Bilder von ihrem Mann und von ihr … aus den Fotoalben, die wir aus dem Haus geholt haben. Irgendwie müssen wir ihre Identität ja zweifelsfrei sicherstellen.«
    »Das müssen Sie«, lautete die wertungsfreie Antwort der Ärztin.
    Sie legten fest, wie die Begegnung stattfinden sollte, und kurze Zeit darauf begegnete Schielin Carmen Kohn zum ersten Mal. Sie war etwas zierlicher, als er sie sich vorgestellt hatte. Sie sah gut aus, gepflegt. Ihre Augen blieben ruhig an ihm haften und als er sich vorgestellt hatte, begrüßte ihn eine weiche, zurückhaltende Stimme. Er wurde unsicher.
    Sie setzte sich ihm gegenüber. Die Beine hatte sie angezogen, doch den Oberkörper beugte sie nach vorne, so, als würde sie ihn dann besser verstehen können. Eine Haltung, die Zuwendung und Verschlossenheit zugleich signalisierte. Er kannte das Gesicht von den Fotos und es war völlig unstrittig, dass es sich bei der Frau gegenüber um Carmen Kohn handelte.
    Das Problem bestand darin, dass sie wussten, wer sie war. Sie selbst hatte den Aussagen der Ärzte zufolge keine Erinnerung mehr daran, wer sie war.
    Schielin erzählte von Lindau, vom Haus mit dem herrlichen Garten und den Rosen. Dann beschrieb er die Kinder der Haubachers, sprach von den Hendlers und schließlich auch von Carmen Kohns Mann, Gundolf Kohn und seinen Büchern. Zum Schluss kam er nochmals auf den Garten, die Rosen und Staudenbeete zu sprechen. Einige der Rosennamen hatte er sich sogar merken können und zählte sie auf. Aber es war keine Regung bei ihr auszumachen. Sie saß ihm in unveränderter Haltung gegenüber und hörte freundlich zu, wendete einige Male ihren Kopf, zog die Stirn ein wenig kraus. Sie war an dem, wovon er berichtete, auf höfliche Weise interessiert, doch das, wovon er erzählte, war ihr genauso fremd wie er selbst. Als er geendet hatte, übernahm die Ärztin. Sie fasste seine Schilderungen noch einmal in kurze Sätze zusammen und zeigte Carmen Kohn einige Bilder. Lindau, den Bodensee, ihr Haus in Heimesreutin, den Garten, ihren Mann und dann sie selbst.
    Carmen Kohn lachte: »Das bin ja ich.«
    Schielin sah erschüttert zu. Sie war nicht entsetzt von der Erfahrung ihr eigenes Leben nicht zu kennen.
    Als sie bald darauf von einem Pfleger wieder auf ihr Zimmer zurückgebracht worden war, fragte Schielin fassungslos: »Was ist da passiert?«
    »Amnesie – Gedächtnisverlust«, entgegnete die Ärztin gelassen.
    »Wie kann das passieren?«
    »Es gibt verschiedene Ursachen: virale Meningitis, Schädel-Hirn-Trauma, Schocksituationen …«
    Schielin blätterte ziellos in seinem Kripokalender und kritzelte auf der einen oder anderen Seite herum. »Ich denke, die ersten beiden Möglichkeiten scheiden aus, bliebe aufgrund der Umstände eine Schocksituation. Wäre das vorstellbar?«
    Die Ärztin holte zu einer umfassenden Erläuterung aus. »Das wäre es durchaus. Wissen Sie, Frau Kohn realisiert die Tatsache geboren worden zu sein, weil sie – existiert. Sie nimmt sich wahr als ganzen Menschen, hat aber keine Erinnerung oder Vorstellung darüber, jemals eine Mutter gehabt zu haben. Die Situation, in der sie ist, ermöglicht ihr keinen emotionalen Bezug dazu, kein Gesicht, keine Statur, keine Szenen. Begriffe wie Vater, Mutter, Sohn, Tochter sind nur Worte – ohne Inhalt. Es existiert auch keine Vorstellung darüber, wie solche Beziehungen hätten sein können.«
    Schielin schüttelte den Kopf. »Könnte es sein, dass sie simuliert?«
    Die Ärztin lachte. »Ich hatte auf diese Frage schon gewartet und sie kommt für einen Polizisten sehr spät. Nein, ich muss Sie enttäuschen – das kann nicht sein. Es gibt wissenschaftliche Methoden, mit denen man eine Amnesie nachweisen kann und wir haben Frau Kohn ausführlich untersucht.«
    »Sie hat also ihre Identität verloren«, sagte Jasmin Gangbacher.
    »Nein. Sie hat die Erinnerung an das verloren, was ihre bisherige Identität als Mensch ausmachte.«
    »Dann hat sie ein

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