Hexenstein
sicher zu viel, was sie erlebt hatte, was sie erleben musste, und je mehr er an sie dachte, desto weniger erschien ihm ihre Lebenslage bemitleidenswert. Vielleicht war es auch eine gnädige Situation, wie eine Fremde auf das eigene Leben zu schauen.
Die Morgendämmerung zog langsam herauf. Er wollte den Sonntagmorgen nutzen, um seine Gedanken zu klären, und plante dazu eine frühe Runde mit Ronsard. Danach musste er schnell duschen, um Marja in die Kirche zu begleiten. Sie hatte es angemahnt und wollte nicht schon wieder alleine gehen. Schielin kroch in die alten Trekkingschuhe und ging hinaus. Drüben bei Albin Derdes war alles noch still. Eine Amsel flatterte vorbei. Er blieb stehen und lauschte in die morgendliche Stille – etwas passte nicht. Er sah hinüber zur Weide, die noch in halbem Hell und halbem Dunkel lag. Nur das frische Blattwerk der Bäume hatte schon etwas Zeichnung und markierte den Tag. Dann sah er es. Ein Stöhnen drang ihm aus dem Leib. Langsam ging er darauf zu und sein Blick suchte instinktiv den Waldrand ab. Erich Gommert hatte also doch recht gehabt.
Er atmete kontrolliert, als er nur noch wenige Meter vor dem alten Nussbaum stand, der den Platz zwischen Haus und Weide beherrschte. Von einem der ausladenden Queräste hing ein Strick. An dessen Ende der tote Körper einer schwarzen Katze. Schielin beschleunigte seine Schritte und rannte zur Weide. Hinten am Waldrand standen die Friesen und Ronsard, wie immer am Birnbaum. Atemlos vor Zorn kam Schielin am Zaun an und entgegen den sonstigen Gepflogenheiten trabte Ronsard mit schnellen Schritten herbei und stieß seine Mehlschnauze zur Begrüßung gegen Schielins Schulter.
Der kontrollierte mit einem schnellen Blick, ob alles in Ordnung war, kratzte seinem Esel ein paar Mal über die Nase und ging wieder zurück zum Haus. Er hätte rennen wollen, doch das Gefühl beobachtet zu werden, veranlasste ihn langsam zu gehen. Er wollte einem Unbekannten keine Freude bereiten. Der Leib der Katze war aufgeschnitten. Am Boden hatte sich ein kleiner Fleck Blut gebildete. Zu wenig. Hier war sie nicht getötet worden. Zurück am Haus sah er die Bescherung. An der Türe drohte ein großes X in schwarzroter Farbe. Conrad Schielin bezweifelte, dass es sich hier um das Symbol für eine Suche handelte. Dieses X stand für nichts anderes als für eine Warnung, vielleicht auch eine Drohung.
Kimmel hatte sich sofort von seiner Frau zu Schielin fahren lassen. Aus welchem Grund auch immer, aber er war der Erste. Gleich nach ihm kam Wenzel. Auch er wurde gebracht. Ein schwarzes Cabrio mit Memminger Kennzeichen fuhr vor. Eine Braunhaarige steuerte den BMW, stieg mit Wenzel aus, besah sich die Bescherung und wünschte abgeklärt viel Erfolg. Dann fuhr sie wieder.
Drinnen, im Haus, saß Kimmels Frau mit Marja und trank Kaffee. Die Mädchen schliefen noch. Kimmel wanderte zwischen Anwesen und Weide hin und her. Nachdem Wenzel die Spurensicherung erledigt hatte, ließen sie die Katze samt Seil in eine Plastiktüte gleiten. Schielin wusch das blutige X mit warmem Wasser von der Türe.
Kurze Zeit später saßen alle in der von Kaffeedunst erfüllten Stube. Die Mädchen waren blass und still, obwohl sie von allem nichts mitbekommen hatten.
»Was werdet ihr machen?«, fragte Wenzel.
Schielin zuckte mit den Schultern. »Muss überlegen.«
Marja schüttelte den Kopf.
Kimmel war zu aufgebracht, um etwas Vernünftiges sagen zu können. Er schwieg zunächst. Dann presste er ein »Wo bleibt die denn!« hervor. Kurz darauf kam Jasmin Gangbacher und nahm alle drei mit zur Dienststelle.
Wieder nichts mit Kirche, dachte Schielin. Von Robert Funk wusste er, dass er den Vormittag in der Versöhnerkirche im Zech verbrachte, wo Pfarrer Gruber und seine Frau verabschiedet wurden. Sie hatten sich vor Kurzem darüber unterhalten und Funk hatte ganz unglaubliche Dinge berichtet – dass Pfarrer Gruber nämlich aufhören wollte Pfeife zu rauchen. Gommert hatte nur gemeint, dass es dann gut sei, dass er in Ruhestand ginge, weil das für alle Beteiligten, inklusive Heiliger Geist, eine derartige Umstellung wäre, die gar nicht zu bewältigen sei.
Schielin war froh, dass sie Robert Funk heute Morgen nicht erreicht hatten.
Bis zum Sonntagmittag waren alle auf der Dienststelle versammelt und wurden von Schielin über das unterrichtet, was er in der Weissenau erlebt hatte – eine Carmen Kohn, die mit den Geschehnissen, die die hier in der Runde Versammelten bedrückte, rein gar nichts
Weitere Kostenlose Bücher