Hexenstein
Naber, wer sich denn den Montag über um seine Mutter gekümmert hätte, wo er doch fast den gesamten Tag außer Haus gewesen sei, ließ er unbeantwortet.
Schielin meinte ohne Mitleid in der Stimme, dass er gestresst aussehe. Lange hatte er nach einer Formulierung gesucht. Heruntergekommen konnte man ja schlecht sagen. Brender fuhr sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht und meinte, dass es seiner Mutter sehr schlecht gehe.
Auch Lydias Frage, ob er in Geldnöten stecke, holte ihn nicht aus seiner abwesenden Fahrigkeit. »Wer hat die denn nicht«, sagte er und sah an beiden vorbei zum Fenster hinaus.
Später, im Auto dann, schlug Lydia Naber auf die Verkleidung und fluchte lauthals. Nichts ging voran, aber auch gar nichts.
Als sie bald darauf wieder auf den Hof der Dienststelle in der Ludwig-Kick-Straße einbogen, war Schielin uneins mit sich. Er ging hinüber zum Gesundheitsamt, ratschte ein wenig mit Esther, was ihm guttat, und verließ anschließend das Gebäude.
Albin Derdes war ihm wieder eingefallen. Wenn schon die rationalen Methoden keinen Erfolg verhießen, waren die vermeintlich abwegigen Bereiche vielleicht hilfreicher. Er ging zu Fuß die Ludwig-Kick-Straße entlang, passierte die Sportanlagen, das Valentin-Heider-Gymnasium und den Friedhof. Schon fast an der Kemptener Straße, bog er nach rechts ab, wo am Rennerle das ehemalige Café Wölfle, nun unter neuem Namen, lag.
Alle Tische auf der Terrasse unter den Linden waren besetzt. Belebender Duft von Kaffee hing in der Luft. Schielin durchschritt den einfallslosen Glasbau, der dem alten Gebäude der Zweckmäßigkeit halber und des Zeitgeistes wegen aufgezwungen worden war. Hinter der Türe zum Café erwartete ihn ein ganz und gar ungewöhnlicher Raum, wie er heutzutage niemals mehr geschaffen würde. Anregende Rottöne nahmen einen gefangen, zwangen in die einladenden Polster. Rechter Hand schwang in weitem, weichem Bogen eine generöse Fensterfront auf einen Punkt im Irgendwo. Eine Reihe Tische folgte dem Halbrund und jenseits der Glasscheiben breitete sich die Terrasse aus, umgeben vom gierigen Grün der Linden. Im Cafésaal gab es keine Winkel. Es war, als hätten die Wasser des Bodensees den Raum aus einem Ganzen herausgespült.
Schielin sah sich um. Gleich hinter der Türe unter der von Blau dominierten, übermodernen Darstellung von Leuchtturm und Löwe war der Tisch, wegen dessen Besetzung er hierhergekommen war. Er klopfte zur Begrüßung auf die Tischplatte und setzte sich auf die Eckbank. Die vier Personen nahmen es zur Kenntnis und spielten weiter Schafkopf, ohne sich von der Anwesenheit des Kiebitzers stören zu lassen. Schielin saß und schwieg, wie es sich gehörte, wenn man fünftes Rad am Wagen war. Ihm gegenüber saß ein altes Weib. Die Katsch, wie sie genannt wurde. Er kannte sie von vielerlei Anlässen her. Sie war letztes Relikt einer alten Wirtsfamilie, die in Bregenz und Lindau ihre Stuben betrieben und hatte schon als Kind alle möglichen Kartenspiele gelernt – die erlaubten als auch diejenigen, die gleich nach dem Häuseranzünden kamen. Sie war mit einem Wort gesagt: ausgebufft.
Ihre Haare waren straff nach hinten gekämmt und ein dünner Knoten hing an ihrem Hinterkopf. Das Gesicht war gelblich-braun und voller Falten. Sie war hager, wirkte aber keinesfalls hinfällig oder schwach, denn ihre Augen brannten vor Spannung und Konzentration und ließen nicht los, von ihrem Blatt und von dem, was die anderen legten. Sie vermittelte einen durch und durch zähen Eindruck und ihre Stimme ließ keinen Zweifel über ihr hohes Alter aufkommen – schneidend, verbraucht und immer noch voller Energie und Boshaftigkeit. Alle Enttäuschungen ihres Lebens lagen in den krächzenden Lauten, die sie hören ließ, wenn sie einen Stich verlor. Demgegenüber standen das Leuchten ihrer Augen und ihr kirrendes, kurzes Lachen voll ehrlicher Freude über den Gewinn eines Stichs, oder Spiels. Je länger Schielin dasaß und dem Geschehen folgte, desto wohliger wurde ihm.
Neben der Katsch saß ein Kerl, der etwa im gleichen hohen Alter wie sie sein musste. Er hatte ein gutmütiges Wesen und sein fleischiger Mund gab dem Gesicht mit roter, knolliger Nase ein beständiges Lächeln mit. Seine Stimme war tief und donnernd, was zunächst nur an dem kurzen, anfallartigen Lachen zu hören war, wenn er gewann oder verlor. Ein wenig sah er aus wie ein verlaufener Teig. Er sagte selbst nichts, kommentierte immer nur die Sprüche der anderen. Solos
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