Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
nicht, wenn du dort bist. Du wirst von Erinnerungen bombardiert werden. Du wirst meilenweit von jedem weg sein, den du kennst…«
    Er schüttelte den Kopf. »Du hast recht, Doc. Ich werde mich vorsehen. Ich komme schon zurecht.«
    Er ging zu seinem Koffer, nahm seinen Sony-Walkman aus der äußeren Tasche und vergewisserte sich, daß er für den Flug ein Buch eingesteckt hatte.
    »Vivaldi«, sagte er und schob den Walkman mit den winzigen Ohrhörern in seine Jackentasche. »Und mein Dickens. Ich werde verrückt, wenn ich ohne die beiden fliege. Besser als Valium und Wodka, das schwöre ich.«
    Sie lächelte ihn an, ein exquisites Lächeln, und dann mußte sie lachen. »Vivaldi und Dickens«, flüsterte sie. »Was für eine Vorstellung.«
    Er zuckte die Achseln. »Wir haben alle unsere Schwächen«, sagte er. »Gott, warum fahre ich einfach so weg? Bin ich verrückt?«
    »Wenn du mich heute abend nicht anrufst…«
    »Ich rufe dich an, früher und öfter, als dir wahrscheinlich lieb ist.«
    »Das Taxi ist da«, sagte sie.
    Er nahm sie in die Arme, küßte sie, preßte sie an sich. Und einen Moment lang konnte er sich fast nicht von ihr lösen. Er dachte wieder an das, was sie gesagt hatte – daß sie den Unfall und seinen Gedächtnisverlust verursacht hätten -, und eine dunkle Kälte durchrieselte ihn, beinahe echte Angst. Was wäre, wenn er einfach alles vergäße, für immer? Wenn er einfach bei ihr bliebe? Es erschien ihm wie eine Möglichkeit, gleichsam wie eine letzte Chance.
    »Ich glaube, ich liebe dich, Rowan Mayfair«, flüsterte er.
    »Ja, Michael Curry«, sagte sie. »Ich glaube, dasselbe könnte ich in diesem Augenblick auch sagen.«
    Sie schenkte ihm noch ein sanftes, strahlendes Lächeln, und in ihren Augen sah er all die Kraft, die er in den letzten Stunden so verführerisch gefunden hatte, und auch all die Zärtlichkeit und Trauer.
     
    Erst als er darauf wartete, an Bord des Flugzeugs zu gehen, fiel ihm etwas ein, etwas, woran er bis jetzt nicht den geringsten Gedanken verschwendet hatte.
    Dreimal hatte er in den letzten Stunden mit ihr geschlafen, ohne die üblichen Maßnahmen zur Empfängnisverhütung zu treffen. Nicht einmal gedacht hatte er an die Präservative, die er in der Brieftasche bei sich trug, und sie hatte er auch nicht gefragt. Seit vielen Jahren war es das erstemal, daß er so etwas versäumt hatte.
    Um Himmels willen, sie war schließlich Ärztin. Sicher hatte sie in der Sache vorgesorgt. Aber vielleicht sollte er sie doch anrufen. Es würde sowieso nichts schaden, ihre Stimme zu hören. Er klappte seinen David Copperfield zu und sah sich nach einem Telephon um.
    Dann sah er den Mann, diesen Engländer mit dem weißen Haar und dem Tweedanzug. Er saß nur ein paar Reihen weiter mit Aktenkoffer und Regenschirm, eine gefaltete Zeitung in der Hand.
    O nein, dachte Michael verzweifelt und setzte sich wieder. Das hat mir noch gefehlt, daß ich ihm jetzt über den Weg laufe.
    Der Flug wurde aufgerufen. Michael beobachtete besorgt, wie der Engländer aufstand, seine Sachen nahm und zum Gate ging.
    Wenig später blickte der alte Gentleman nicht einmal auf, als Michael an ihm vorbeiging und einen Fensterplatz am hinteren Ende der Ersten Klasse einnahm. Der alte Knabe hatte bereits seinen Aktenkoffer aufgeklappt und schrieb – anscheinend sehr schnell – in ein großes, ledergebundenes Buch.
    Michael bestellte sich seinen Bourbon und ein eiskaltes Bier, bevor das Flugzeug in der Luft war. Als sie in Dallas zu einem vierzigminütigen Aufenthalt landeten, war er beim sechsten Bier und im siebten Kapitel von David Copperfield, und den Engländer hatte er vollkommen aus seinem Gedächtnis gestrichen.

 
    7
     
     
    Er hatte den Taxifahrer unterwegs anhalten lassen und sich, schon selig von der warmen Sommerluft, ein Sechserpack gekauft, und als sie jetzt den Freeway verließen und in die vertraute, unvergeßliche Schmuddeligkeit der unteren St. Charles Avenue einbogen, hätte Michael am liebsten geweint beim Anblick der schwarzborkigen Eichen mit ihrem dunklen Laub und der langen, schmalen Straßenbahn, die genauso, wie er sie in Erinnerung hatte, dröhnend und ratternd auf ihrem Gleis dahinfuhr.
    Selbst in dieser Gegend, mitten zwischen häßlichen Hamburgerbuden und schmierigen Holzkneipen und neuen Apartmenthäusern, die über verbreiterten Ladenfassaden und verlassenen Tankstellen aufragten, war es seine alte, blühende Stadt mit ihrer sanften Schönheit. Er liebte sogar das Unkraut, das

Weitere Kostenlose Bücher