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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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ringsumher, daß die Schatten selbst zum Leben zu erwachen schienen. Und dann ertönte ein anderes Geräusch, das er ganz vergessen hatte: der schrille Schrei der Vögel.
    Es klingt wie im Wald, dachte er, als er die düsteren, einsamen Galerien anschaute, verhüllt von früh einsetzender Dunkelheit. Kein einziges Licht schimmerte hinter den hohen, schmalen, zahlreichen hölzernen Blendläden.
    Der Himmel spannte sich glasig glänzend über dem Dach, von sanftem Violett und Gold durchzogen. Er ließ noch die hinterste Säule der zweiten Galerie hoch oben kraß und schön hervortreten, und ebenso die Ranken der Bougainvillea, die üppig vom Dach herunterwölkten. Trotz des Zwielichts sah er die purpurnen Blüten. Und er konnte das alte Rosenmuster im Zaun verfolgen. Er konnte die Kapitelle der Säulen erkennen, die kuriose Italianaten-Mischung aus dorischen Kapitellen für die Seiten, ionischen für die unteren, vorgesetzten und korinthischen für die oberen Säulen.
    Mit einem langen, trauervollen Seufzer atmete er ein. Wieder verspürte er ein unaussprechliches Glück, aber es war mit Trauer gemischt, und er wußte nicht genau, warum. All die langen Jahre, dachte er müde und trotz all seiner Freude. Die Erinnerung hatte nur in einer Hinsicht getrogen, dachte er. Das Haus war größer, viel größer als in seiner Erinnerung. Alle diese alten Häuser waren größer; der Maßstab von allem hier schien einen Augenblick lang fast unvorstellbar.
    Und doch hatte alles eine atmende, pulsierende Geschlossenheit – das weich wuchernde Laub hinter dem rostigen Eisenzaun, das mit der Dunkelheit verschmolz, das Singen der Zikaden, die dichten Schatten unter den Eichen.
    »Das Paradies«, wisperte er. Er starrte hinauf zu den winzigen grünen Farnkräutern, die auf den Eichenästen wuchsen, und die Tränen stiegen ihm in die Augen. Die Erinnerung an die Visionen kam gefährlich nahe; sie streifte ihn wie ein dunkler Flügel. Ja, das Haus, Michael.
    Wie angewurzelt stand er da, und die Bierdose lag kalt in seiner behandschuhten Hand. Sprach sie mit ihm, die Frau mit dem dunklen Haar?
    Sicher wußte er nur, daß das Zwielicht sang. Die Hitze sang. Er ließ seinen Blick zu den anderen Häusern wandern und sah nichts außer der fließenden Harmonie von Zaun und Säule und Mauerwerk und selbst den kleinen, kraftlosen Myrtensträuchern, die auf samtig grünen Streifen um ihr Leben kämpften. Ein warmer Friede durchflutete ihn, und für eine Sekunde verlor die Erinnerung an die Visionen und ihren schrecklichen Auftrag, ihre Macht. Zurück, weit zurück in die Kindheit tastete er, nicht nach einer Erinnerung, sondern nach Kontinuität. Tief in ihm gab es natürlich Erinnerungen – Erinnerungen an einen kleinen Jungen, der von den eng beieinanderstehenden Häuschen unten am Fluß durch diese Straße wanderte, an einen kleinen Jungen, der genau hier stand, als es Abend wurde. Aber die Gegenwart überlagerte immer noch alles, und da war keine Mühe, sich zu erinnern und die sanfte Überflutung seiner Sinne, diesen Augenblick reinster Stille in seiner Seele, zu verändern oder zu verbessern.
    Erst als er liebevoll und langsam wieder das Haus selbst anschaute, seine tiefe, wie ein riesiges Schlüsselloch geformte Tür – erst da wurde der Eindruck der Visionen wieder stark. Die Tür. Ja, sie hatten ihm von einer Tür erzählt! Aber es war keine Tür im wörtlichen Sinn. Und doch, der Anblick dieses riesigen Schlüssellochs und des schattendunklen Vestibüls dahinter… Nein, es konnte keine Tür im wörtlichen Sinn gewesen sein. Er öffnete die Augen, schloß sie. Unversehens starrte er wie in Trance zu den Fenstern eines nordwärts gelegenen Zimmers im ersten Stock hinauf, und zu seiner jähen Beunruhigung sah er das grelle Lodern eines Feuers.
    Nein, das konnte nicht sein. Im selben Augenblick erkannte er, daß es nur Kerzenlicht war. Das Flackern blieb, und er schaute verwundert hinauf, verwundert darüber, daß die Bewohner dort drinnen sich für diese Art von Beleuchtung entschieden haben sollten.
    Der Garten verschwamm langsam in der Dunkelheit. Er mußte sich jetzt aufraffen, wenn er noch am Zaun entlang gehen und von der Seite in den Garten schauen wollte. Er wollte es tun, aber das hohe Nordfenster hielt ihn fest. Er sah jetzt den Schatten einer Frau, der sich auf der Gardine bewegte. Und durch die Gardine konnte er oben in einer Ecke ein tristes Blumenmuster an der Wand erkennen.
    Er schob die Finger durch das

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