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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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formell und elegant geschnitten.
    Ihre Wut nahm zu, und eine kalte Ruhe senkte sich über sie. Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren. Durch die Verandatüren konnte er keinen Zutritt zum Haus finden. Die dicken Glaswände konnte er gleichfalls nicht einschlagen. Und wenn sie auf ihn schießen würde – was sie zu gern getan hätte -, würde sie ein Loch ins Glas schießen. Natürlich könnte er ebenfalls auf sie schießen, wenn er sie sähe. Aber warum sollte er das tun? Einbrecher wollten nur einbrechen. Zudem war sie fast sicher, daß er sie schon gesehen hatte, daß er sie beobachtet hatte und daß er sie immer noch beobachtete.
    Ganz langsam drehte sie den Kopf. So dunkel das Wohnzimmer für ihn auch aussehen mußte, er konnte sie doch ohne Zweifel erkennen – ja, er sah sie an.
    Seine Frechheit steigerte ihre Wut. Und das Gefühl der Bedrohlichkeit dieser Situation verstärkte sich. Eiskalt sah sie zu, wie er sich der Glaswand näherte.
    »Komm her, du Dreckskerl, ich bringe dich mit Vergnügen um«, wisperte sie, und sie spürte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten. Ein köstliches Kribbeln ging durch ihren Körper. Sie wollte ihn töten, wer immer er war – ein Eindringling, ein Verrückter, ein Dieb. Sie wollte ihn mit einer .38er Kugel von der Veranda fegen. Oder – um es ganz unverblümt zu sagen – mit jeder anderen Macht, die ihr zu Gebote stand.
    Langsam und mit beiden Händen hob sie den Revolver. Sie zielte auf ihn, mit ausgestreckten Armen, wie Chase es ihr beigebracht hatte.
    Unbeeindruckt schaute der Eindringling sie weiter an, und in ihrer stillen, stahlkalten Wut bestaunte sie die physischen Details, die sie jetzt erkennen konnte. Das dunkle Haar war gewellt, das Gesicht blaß und schmal, und in der überschatteten Miene schien etwas Trauriges und Beschwörendes zu liegen. Der Kopf drehte sich langsam hin und her, als wolle er flehentlich zu ihr sprechen.
    Wer in Gottes Namen bist du? dachte sie. Langsam dämmerte ihr, wie unwahrscheinlich das alles war, und ein völlig fremdartiger Gedanke kam ihr in den Sinn. Dies ist nicht, was es zu sein scheint. Was ich hier sehe, ist eine Art Illusion! Und von jetzt auf nachher ging ihre Wut in Argwohn über und schließlich in Angst.
    Die dunklen Augen des Mannes da draußen blickten beschwörend. Jetzt hob er die bleichen Hände und legte die Finger an das Glas.
    Sie konnte sich nicht rühren, konnte nicht sprechen – doch dann, erbost über ihre Hilflosigkeit und ihr Entsetzen, schrie sie: »Fahr zurück zur Hölle, von wo du gekommen bist!«
    Ihre Stimme hallte laut und schrecklich durch das leere Haus.
    Wie um ihr zu antworten, sie zu verwirren und völlig zu besiegen, verschwand der Eindringling langsam. Seine Gestalt wurde transparent, löste sich vollends auf, und es blieb nichts als der irgend wie grauenvolle und völlig verstörende Anblick der leeren Veranda.
    Die riesige Glasscheibe ratterte. Noch einmal dröhnte es, als ob der Wind mit voller Wucht dagegen wütete. Dann schien die See sich zu beruhigen. Das Rauschen des Wassers erstarb. Und im Haus wurde es still. Sogar die Sweet Christine verharrte widerwillig am Rande des Stegs.
    Rowan starrte auf die leere Veranda hinaus. Dann merkte sie, daß ihre Hände schweißnaß waren und zitterten. Der Revolver fühlte sich ungeheuer schwer und unbeherrschbar an. Ja, sie zitterte jetzt am ganzen Leibe. Gleichwohl ging sie geradewegs auf die Glaswand zu. Wütend über ihre Hilflosigkeit vor diesem Ding berührte sie die Scheibe, wo die Erscheinung sie berührt hatte. Das Glas war kaum merklich, aber doch spürbar warm. Nicht warm, wie es von der Berührung einer menschlichen Hand geworden wäre – denn die hätte kaum vermocht, eine so kalte Fläche zu wärmen -, sondern warm, als sei es mit Hitze bestrahlt worden.
    Hastig ging sie hinüber zur Küchentheke, legte den Revolver hin und nahm den Telephonhörer ab.
    »Ich muß das Pontchartrain Hotel in New Orleans erreichen. Bitte verbinden Sie mich«, sagte sie mit zitternder Stimme. Und um sich zu beruhigen, lauschte sie angestrengt in die Stille, nur um sich zu vergewissern, was sie schon wußte: daß sie mutterseelenallein war.
    Als das Hotel sich meldete, war sie kurz vor einer Panik. »Ich muß mit Michael Curry sprechen«, sagte sie. Er müsse am Abend angereist sein, erläuterte sie. Nein, es sei ihr egal, daß es in New Orleans zwanzig nach fünf sei. Bitte rufen Sie in seinem Zimmer an.
    Eine Ewigkeit schien zu verstreichen. Sie war

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