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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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zu erschüttert, als daß sie darüber hätte nach denken können, wie rücksichtslos es war, Michael um diese Zeit zu wecken. Schließlich war die Telephonistin wieder da. »Bedaure, aber Mr. Curry meldet sich nicht.«
    »Versuchen Sie’s noch mal. Ich muß ihn sprechen.«
    Nachdem alle Versuche, ihn zu wecken, gescheitert waren, und das Hotel sich natürlich weigerte, ohne Michaels Erlaubnis in sein Zimmer einzudringen, hinterließ sie eine dringende Nachricht, legte auf und setzte sich an den Kamin, um nachzudenken.
    Sie war sicher, daß sie den Mann gesehen hatte, absolut sicher. Da draußen auf der Veranda hatte er gestanden. Er hatte sie angesehen, sich genähert, sie gemustert! Was war das für ein Wesen, das nach Belieben erscheinen und verschwinden konnte?
    Letzten Endes suchten ihre Gedanken Zuflucht in der Wissenschaft, aber das konnte die Panik in ihr nicht bremsen, das große, furchtbare Gefühl der Hilflosigkeit, das sie überkommen hatte und immer noch in ihr war. Sie hatte Angst – in ihrem eigenen, sicheren Haus Angst, wo sie sich noch nie zuvor gefürchtet hatte.
    Wieso hatten Wind und Regen dazugehört, fragte sie sich. Und vor allem: Warum war dieses Wesen ausgerechnet ihr erschienen?
    »Michael«, flüsterte sie, und dann lachte sie leise: »Ich sehe sie auch.«
    Sie stand von der Kaminbank auf, ging zielstrebig im Haus umher und knipste jede Lampe an.
    »Also gut«, sagte sie ruhig. »Wenn du wiederkommst, mußt du es in greller Beleuchtung tun.« Aber das war absurd, oder? Etwas, das das Meer in der Richardson Bay in Wallung bringen konnte, konnte vermutlich auch mühelos den Hauptschalter umlegen.
    Aber sie wollte, daß das Licht brannte. Sie hatte Angst. Sie ging ins Schlafzimmer, schloß die Tür hinter sich ab, schloß den Wandschrank ab und schloß die Badezimmertür ab. Dann legte sie sich ins Bett, schob sich die Kissen unter den Kopf und legte sich den Revolver griffbereit zurecht.
    Ein Gespenst, dachte sie. Man stelle sich vor: Ich habe eins gesehen. Ich habe nie daran geglaubt, aber jetzt habe ich eins gesehen. Es mußte ein Geist gewesen sein. Was hätte es sonst gewesen sein können? Aber warum erscheint mir dieser Geist? Wieder sah sie seinen beschwörenden Gesichtsausdruck vor sich, und die Erinnerung an das Erlebnis erwachte in aller Lebendigkeit.
    Plötzlich war ihr ganz elend zumute, weil sie Michael nicht erreichen konnte; Michael war der einzige auf der Welt, der ihr vielleicht glauben würde, was passiert war, der einzige, zu dem sie soviel Vertrauen hatte, daß sie es ihm erzählen könnte.
    Tatsache war, daß sie es aufregend fand: Es hatte sonderbare Ähnlichkeit mit dem, was sie am Abend der Rettung gefühlt hatte. Ich habe etwas Furchtbares und Aufregendes erlebt. Sie wollte es jemandem erzählen. Mit weit offenen Augen lag sie im hellen, schattenlos gelben Licht des Schlafzimmers und dachte: Warum erscheint er mir?
    So seltsam, wie er über die Veranda gekommen war und durch die Scheibe hereingespäht hatte. »Man hätte meinen mögen, ich selbst sei hier die Fremde.«
    Und die Aufregung hielt an. Sie war erleichtert, als endlich die Sonne aufging. Früher oder später würde Michael aus seinem betrunkenen Schlaf erwachen. Er würde die Signallampe an seinem Telephon brennen sehen, und dann würde er bestimmt anrufen.
    Aber jetzt, in der warmen, süßen Sicherheit des Sonnenscheins, der durch das Glas strahlte, dämmerte sie ein; sie kuschelte sich in die warmen Kissen, zog die Steppdecke über sich, dachte an ihn, an den dunklen Flaum auf seinen Armen und den Händen, an seine großen Augen hinter den Brillengläsern. Und kurz bevor sie träumte, dachte sie: Könnte es sein, daß der Geist etwas mit ihm zu tun hatte?
    Die Visionen. »Michael«, wollte sie sagen, »hat es etwas mit den Visionen zu tun?« Dann schwenkte der Traum ins Absurde, und sie erwachte, noch benommen vom Schlaf, und sie dachte: Natürlich, Slattery würde sie vertreten können; und wenn Ellie noch irgendwo existierte, würde es sie nicht mehr kümmern, ob Rowan nach New Orleans fuhr oder nicht – bestimmt nicht, denn so war es doch, oder? Daß das, was jenseits dieser Ebene lag, unendlich viel besser war… Und dann versank sie wieder in den Schlaf der Erschöpfung.

 
    9
     
     
    Michael erwachte abrupt, durstig und schwitzend unter der Bettdecke, obwohl die Luft im Zimmer durchaus kühl war. Er trug Unterhose und Hemd, die Manschetten waren aufgeknöpft, der Kragen offen. Er trug seine

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