Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
Handschuhe.
    Du lieber Gott, wo bin ich? dachte er und setzte sich auf.
    Am Ende eines kleinen Flures schien ein Salon zu sein, und vor geblümten Vorhängen stand ein Stutzflügel aus hellem, poliertem Holz. Seine Suite im »Pontchartrain Hotel«, das mußte es sein.
    Er konnte sich nicht erinnern, wie er hergekommen war.
    Und sofort ärgerte er sich darüber, daß er sich so betrunken hatte. Aber dann kehrte die Euphorie des vergangenen Abends zurück, die Vision des Hauses in der First Street unter dem violetten Himmel.
    Aber wie hatte er es geschafft, ins Hotel zu kommen? Seine letzte Erinnerung war die an den Engländer, mit dem er vor dem Haus in der First Street gesprochen hatte. Und mit diesem kleinen Fetzen kehrte ein zweiter zurück: Er sah den braunhaarigen Mann hinter dem schwarzen Eisenzaun, wie er auf ihn herabstarrte. Er sah die funkelnden Augen nur ein, zwei Armlängen über sich, das seltsam weiße, ausdruckslose Gesicht. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Es war eigentlich nicht Furcht. Es war ein Gefühl, das fast nur aus dem Bauch kam. Sein Körper spannte sich wie unter einer Bedrohung.
    Wie konnte es sein, daß der Mann sich im Laufe der Jahre so wenig verändert hatte? Wie konnte es sein, daß er in diesem Augenblick da und im nächsten verschwunden gewesen war?
    Michael war es, als kenne er die Antwort auf diese Fragen, als habe er schon immer gewußt, daß dieser Mann kein gewöhnlicher Mann war. Aber über diese plötzliche Vertrautheit mit einer so unvertrauten Vorstellung mußte er doch fast lachen.
    »Es geht den Bach runter mit dir, Freundchen«, flüsterte er.
    Rasch ließ er den Blick durch das Zimmer wandern. Ja, das alte Hotel. Ein Gefühl von behaglicher Sicherheit erfüllte ihn, als er den leicht verschossenen Teppich sah, die bemalte Klimaanlage unter dem Fenster, das schwere, altertümliche Telephon auf dem kleinen Intarsientisch, dessen Signallämpchen im Dunkeln blinkte.
    Zur Linken der Wandschrank, sein Koffer aufgeklappt auf dem Ständer, und – Wunder über Wunder – auf dem Tisch neben ihm ein Eiskübel, von winzigen Feuchtigkeitströpfchen herrlich überperlt, und darin drei große Dosen Bier.
    »Na, ist das nicht beinahe perfekt?«
    Er zog den rechten Handschuh aus und berührte eine der Bierdosen. Sofort blitzte das Bild eines uniformierten Kellners auf, dazu der immer gleiche Haufen von störenden, irrelevanten Informationen. Er zog den Handschuh an und riß die Dose auf. In tiefen Zügen trank er den kalten Inhalt zur Hälfte aus. Dann stand er auf, ging ins Bad und aufs Klosett.
    Im matten Licht des Morgens, das durch die Lamellen der Fensterläden hereinfiel, sah er sein Rasierzeug auf der Marmorkommode. Er packte Zahnbürste und Zahnpasta aus und putzte sich die Zähne.
    Jetzt fühlte er sich nicht mehr ganz so brummschädelig, verkatert und elend. Er kämmte sich, trank die Bierdose leer und fühlte sich beinahe fit. Er zog ein frisches Hemd an, dann die Hose, und dann nahm er sich das zweite Bier aus dem Eis, ging durch die Diele und gelangte in ein großes, elegant möbliertes Zimmer.
    Vor einer Gruppe samtbezogener Sofas und Sessel saß der Engländer an einem kleinen hölzernen Tisch, über etliche braune Mappen und maschinenbeschriebenes Papier gebeugt. Er war von schmaler Gestalt; sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, sein Haar von fast luxuriösem Weiß. Er trug eine grausamtene Hausjacke mit einer Kordel um die Taille und graue Tweedhosen, und er sah Michael mit überaus freundlicher und liebeswürdiger Miene an.
    »Wer sind Sie?« fragte Michael.
    »Mein Name ist Aaron Lightner«, antwortete der Engländer. »Ich bin aus London gekommen, um Sie zu sehen.« Es klang sanft, unaufdringlich.
    »Soviel hat meine Tante mir schon erzählt. Ich habe gesehen, daß Sie sich vor meinem Haus in der Liberty Street herumgetrieben haben. Warum, zum Teufel, sind Sie mir bis hierher gefolgt?«
    »Weil ich mit Ihnen sprechen möchte, Mr. Curry«, sagte der Mann höflich, beinahe ehrerbietig. »Ich möchte so dringend mit Ihnen sprechen, daß ich bereit bin, dafür alle möglichen Mißhelligkeiten oder Unbequemlichkeiten in Kauf zu nehmen. Daß ich bereits Ihr Mißfallen erregt habe, ist offensichtlich. Und es tut mir leid, wirklich leid. Ich wollte nur behilflich sein, als ich Sie herbrachte, und bitte erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, daß Sie sich dagegen durchaus nicht gesträubt haben.«
    »Ach nein?« Michael war erbost. Immerhin, dieser Bursche

Weitere Kostenlose Bücher