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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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war wirklich charmant, das mußte man ihm lassen. Aber ein zweiter Blick auf die Papiere, die auf dem Tisch verstreut lagen, machte Michael wütend. Für fünfzig Dollar, wahrscheinlich sogar für beträchtlich viel weniger, hätte der Taxifahrer ihm auch geholfen. Und der Taxifahrer wäre jetzt nicht mehr hier.
    »Das stimmt«, sagte Lightner in seinem sanften, wohltemperierten Ton. »Vielleicht hätte ich mich nach oben in meine eigene Suite zurück ziehen sollen; aber ich war nicht ganz sicher, ob Ihnen nicht vielleicht schlecht werden würde, und, offen gesagt, ich war auch in einer anderen Hinsicht besorgt.«
    Michael sagte nichts. Es war ihm vollständig bewußt, daß dieser Mann gerade sozusagen seine Gedanken gelesen hatte. »Na«, sagte er, »mit diesem kleinen Trick haben Sie jetzt doch mein Interesse geweckt.« Und er dachte: Kannst du es noch mal tun?
    »Ja, wenn Sie möchten«, antwortete der Engländer. »Ein Mensch in Ihrer Geistesverfassung ist – leider – mühelos zu verstehen. Ihre gesteigerte Empfindsamkeit funktioniert, fürchte ich, in zwei Richtungen. Aber ich kann Ihnen zeigen, wie Sie Ihre Gedanken verbergen, wie Sie sie gewissermaßen abschirmen können, wenn Sie wollen. Andererseits ist das eigentlich nicht notwendig. Es laufen nicht viele Leute wie ich herum.«
    Michael mußte wider Willen lächeln. Alles das wurde in so vornehmer Bescheidenheit geäußert, daß er sich davon halbwegs überwältigt und jedenfalls beruhigt fühlte. Der Mann wirkte absolut aufrichtig. Ja, der einzige Gefühlseindruck, den Michael überhaupt empfing, war der von Güte, was ihn ein wenig überraschte.
    Michael ging um das Klavier herum zu den geblümten Vorhängen und zog an der Schnur. Es war ihm zuwider, morgens in einem elektrisch beleuchteten Zimmer zu sein, und er war sofort wieder glücklich, als er jetzt auf die St. Charles Avenue hinunterschaute, auf den breiten Grasstreifen und die Straßenbahnschienen und das staubige Laub der Eichen. Er hatte vergessen, daß die Eichenblätter so dunkelgrün waren.
    Er mußte hinaus, mußte wieder zu dem Haus in der First Street. Aber es war ihm schneidend bewußt, daß der Engländer ihn beobachtete. Und wieder spürte er nichts als Ehrlichkeit bei dem Mann, nichts als eine Art gesunden guten Willens.
    »Okay, ich bin neugierig«, sagte er und drehte sich um. »Und ich bin dankbar. Aber das alles gefällt mir nicht. Wirklich nicht. Also gebe ich Ihnen – wohlgemerkt, aus Neugier und Dankbarkeit – zwanzig Minuten Zeit, mir zu erklären, wer Sie sind und warum Sie hier sind und was das alles soll.« Er setzte sich dem Mann und dem papierübersäten Tisch gegenüber auf ein Samtsofa und knipste die Lampe aus. »Ach, und danke für das Bier. Das Bier weiß ich wirklich zu schätzen.«
    »Im Kühlschrank in der Küche dort hinten ist noch mehr«, sagte der Engländer mit unerschütterlicher Freundlichkeit.
    »Sehr aufmerksam«, sagte Michael. Er fühlte sich wohl in diesem Zimmer. Eigentlich konnte er sich aus seiner Kindheit nicht mehr daran erinnern, aber behaglich war es mit seinen dunkel tapezierten Wänden, den weichen Polstermöbeln und den niedrigen Messinglampen.
    »Sie möchten nicht vielleicht einen Cognac?« fragte der Mann. Michael sah eine kleine Brandyflasche und ein Glas.
    »Nein. Warum haben Sie oben eine Suite? Was ist los?«
    »Mr. Curry, ich gehöre einer alten Organisation an«, sagte der Mann. »Sie heißt Talamasca. Haben Sie den Namen schon einmal gehört?«
    Michael überlegte einen Augenblick. »Nein.«
    »Wir reichen bis ins elfte Jahrhundert zurück. Eigentlich noch weiter, aber irgendwann im elften Jahrhundert nahmen wir den Namen Talamasca an, und von da an hatten wir sozusagen eine Satzung und bestimmte Regeln. Modern ausgedrückt, sind wir eine Gruppe von Historikern mit einem Interesse an vorwiegend parapsychologischer Forschung. Hexerei, Spuk, Vampire, Menschen mit bemerkenswerten übersinnlichen Fähigkeiten – alles das interessiert uns, und wir führen ein gewaltiges Archiv mit Informationen darüber.«
    »Und das tun Sie seit dem elften Jahrhundert?«
    »Ja, und länger, wie gesagt. Wir sind in vieler Hinsicht eine sehr zurück haltende Gruppe; wir mischen uns ungern ein. Ich will Ihnen unsere Karte und unser Motto zeigen.«
    Der Engländer zog eine Karte aus der Tasche, gab sie Michael und kehrte zu seinem Stuhl zurück.
    Michael las, was auf der Karte stand.
     
    DIE TALAMASCA
    Wir wachen
    Und wir sind immer da
     
    Darunter

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