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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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rasch und zu bereitwillig der Küstenwache überlassen hatte, und heute morgen wieder, als sie ihn allein nach New Orleans hatte fliegen lassen.
    Natürlich hätte niemand erwarten können, daß sie mitfuhr. Aber es wußte auch niemand, was sie für Michael empfand oder was Michael für sie empfunden hatte.
    Was Michaels Visionen anging – und sie hatte jetzt ausführlich darüber nachgedacht -, so hatte sie dazu keine bündige Meinung außer der, daß sie keiner physiologischen Ursache zugeschrieben werden konnten. Und wieder fand sie es erschreckend, ja, irgend wie beängstigend, wie speziell – wie exzentrisch – diese Visionen waren. Und hartnäckig hielt sich bei ihr ein Gefühl von gefährlicher Unschuld bei Michael, von einer Naivität, die anscheinend mit seiner Einstellung zum Bösen zusammenhing. Vom Guten verstand er sehr viel mehr als vom Bösen. Aber warum hatte er ihr auf der Fahrt von San Francisco hierher diese sonderbare Frage gestellt: Ob sie versucht habe, ihn irgend wie zu warnen?
    Er hatte Grahams Tod gesehen, als er ihre Hand berührt hatte, weil sie an Grahams Tod gedacht hatte. Der Gedanke daran quälte sie. Aber wie konnte Michael dies als absichtliche Warnung deuten? Hatte er etwas gespürt, das ihr ganz und gar unbewußt war?
    Je länger sie in der Sonne saß, desto deutlicher wurde, daß sie nicht klar denken konnte und daß sie diese Sehnsucht nach Michael nicht ertrug, die allmählich die Grenze des Schmerzes überschritt.
    Sie ging nach oben in ihr Schlafzimmer. Als sie unter die Dusche trat, fiel ihr etwas ein. Sie hatte völlig vergessen, ein Verhütungsmittel zu benutzen, als sie mit Michael zusammen gewesen war. Nicht zum erstenmal in ihrem Leben war sie so töricht gewesen, aber zum erstenmal seit vielen Jahren.
    Doch jetzt war es passiert, nicht wahr? Sie drehte den Wasserhahn auf, lehnte sich an die Kachelwand und ließ das Wasser an sich hinabströmen. Was für ein Gedanke, ein Kind von ihm zu bekommen… Aber das war verrückt. Rowan wollte keine Kinder. Sie hatte nie Kinder haben wollen. Der Fötus im Labor fiel ihr ein, mit all den Drähten und Schläuchen, die daranhingen. Nein, ihre Bestimmung war es, Leben zu retten, nicht, welches zu machen. Was bedeutete das also? Die nächsten zwei Wochen würde sie besorgt sein; und wenn sie dann wüßte, daß sie nicht schwanger war, wäre alles wieder in Ordnung.
    Sie war so schläfrig, daß ihr kaum bewußt war, was sie tat, als sie aus der Dusche kam. Sie fand Michaels abgelegtes Hemd am Bett, das er am Abend zuvor dort hingeworfen hatte. Es war ein blaues Arbeitshemd, aber wie ein Oberhemd gestärkt und gebügelt, und es hatte ihr gefallen. Sie faltete es säuberlich zusammen und nahm es dann in die Arme, als sie sich hinlegte, wie ein Kind es mit seiner Kuscheldecke oder seinem Lieblingsstofftier tut.
    Als sie aufwachte, wußte sie, daß sie nicht allein im Haus bleiben konnte. Es war, als habe Michael hier überall seinen warmen Abdruck hinterlassen. Sie hörte das Timbre seiner Stimme und sein Lachen, sah seine großen blauen Augen, die sie durch horngeränderte Brillengläser ernsthaft anschauten, fühlte seine behandschuhten Finger auf ihren Brüsten, ihren Wangen.
    So früh war noch nicht damit zu rechnen, daß sie von ihm hören würde, und das Haus erschien ihr um so leerer, da seine Wärme noch darin wehte.
    Sofort rief sie in der Klinik an. Natürlich wurde sie gebraucht. Es war schließlich Samstagabend in San Francisco, nicht wahr? Die Notaufnahme im San Francisco General Hospital platzte bereits aus allen Nähten. Unfallopfer überfluteten das Trauma-Zentrum der Universitätsklinik; auf dem Highway 101 hatte es eine Massenkarambolage gegeben und anderswo mehrere Schießereien.
    Fünf Stunden lang dachte sie überhaupt nicht mehr an Michael.
     
    Es war zwei Uhr nachts, als sie nach Hause kam. Es war kalt und dunkel im Haus, wie sie es erwartet hatte, als sie hereinkam. Aber zum erstenmal seit Ellies Tod merkte sie, daß sie nicht über Ellie brütete. Und sie dachte auch nicht voller Unbehagen und Schmerz an Graham.
    Auf ihrem Anrufbeantworter war keine Nachricht von Michael. Sie war enttäuscht, aber nicht überrascht. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie er betrunken aus dem Flugzeug wankte. In New Orleans war es jetzt vier Uhr, überlegte sie. Im »Pontchartrain Hotel« konnte sie jetzt jedenfalls nicht anrufen.
    Am besten dachte sie gar nicht allzu viel darüber nach, erwog sie vernünftig, als sie die

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