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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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obwohl er so betrunken war, sah er das gütige Gesicht des Mannes, sein zurück haltendes, feines Benehmen.
    »Ich möchte Ihnen helfen, Michael«, sagte der Mann mit äußerster Sanftmut. Es war eine jener vollen, grenzenlos höflichen englischen Stimmen. »Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir erlauben wollten, Sie in Ihr Hotel zu bringen.«
    »Yeah, das scheint mir eine ganz angemessene Maßnahme zu sein«, sagte Michael, und es war ihm schneidend bewußt, daß er die Worte kaum klar über die Lippen brachte. Er starrte noch einmal in den Garten, auf die hohe Fassade des Hauses, das sich jetzt immer mehr in der Dunkelheit verlor. Anscheinend redeten der Taxifahrer und der Engländer miteinander. Anscheinend bezahlte der Engländer das Taxi.
    Michael wollte den Geldscheinclip aus seiner Hosentasche ziehen, aber seine Hand fuhr immer wieder außen am Stoff entlang. Er entfernte sich von den beiden Männern, kippte wieder nach vorn und gegen den Zaun. Fast alles Licht war jetzt vom Rasen und von den in der Ferne herankriechenden Büschen gewichen. Das Spalier mit seiner Rankenlast war nur noch eine verhüllte Silhouette in der Nacht.
    Aber unter der hintersten Myrte erkannte Michael ganz deutlich eine schmale menschliche Gestalt. Er sah das fahle, ovale Gesicht des Mannes, und vor seinem ungläubigen Auge stand derselbe steife weiße Kragen von früher, dieselbe seidene Krawatte.
    »Kommen Sie, Michael, lassen Sie sich zurück bringen«, sagte der Engländer.
    »Erst müssen Sie mir etwas sagen«, verlangte Michael. Er fing an, am ganzen Leibe zu zittern. »Schauen Sie hin und sagen Sie mir: Sehen Sie diesen Mann?«
    Aber jetzt sah er nur noch Dunkelheit in unterschiedlichen Schattierungen. Und aus seiner Erinnerung kam die Stimme seiner Mutter, jung und frisch und schmerzhaft unvermittelt: »Michael, du weißt doch, da ist kein Mann.«

 
    8
     
     
    Als Michael fort war, saß Rowan stundenlang auf der westlichen Veranda, ließ sich von der Sonne wärmen und dachte einigermaßen unzusammenhängend und schläfrig an all das, was geschehen war. Sie war ein wenig schockiert und verwundet von allem, aber es war ein süße Verwundung.
    Nichts konnte die Scham und die Schuldgefühle vertreiben, die sie erfüllten, weil sie Michael ihre Zweifel und ihre Trauer aufgebürdet hatte. Aber echte Sorge bereitete es ihr nicht mehr.
    Man wurde keine gute Neurochirurgin, indem man sehr lange über seine Fehler nachgrübelte. Die angemessene und für Rowan instinktiv naheliegende Methode bestand darin, einen Fehler zu bewerten als das, was er war, sich zu überlegen, wie er in Zukunft zu vermeiden sei, und dann weiterzumachen.
    Und so machte sie eine Bestandsaufnahme von ihrem Alleinsein, ihrer Trauer, der Offenbarung ihrer eigenen Not, die sie veranlaßt hatte, Michael in die Arme zu fallen; sie bezog auch die Tatsache ein, daß es Michael offenbar Freude gemacht hatte, sie zu trösten, daß dies sie beide zueinander hingezogen hatte und ihre neue Beziehung in einer gänzlich unvorhergesehenen Weise tief gefärbt hatte.
    Für Rowan, die ihren spirituellen Hunger und ihre physischen Gelüste so lange vollständig von einander getrennt hatte, war die plötzliche Erfüllung ihrer Sehnsüchte durch eine Person, nämlich Michael – diesem gutmütigen, intelligenten, unwiderstehlich liebenswerten, bezaubernd fröhlichen und gutaussehenden Mann mit dieser fesselnden Mischung aus mysteriösen psychologischen und übersinnlichen Problemen – beinahe mehr, als sie ertragen konnte. Sie schüttelte den Kopf, lachte leise und nahm einen Schluck Kaffee. »Dickens und Vivaldi«, sagte sie laut. »Oh, Michael, bitte komm zurück zu mir. Komm bald zurück.« Er war ein Geschenk aus dem Meer, dieser Mann.
    Aber was, zum Teufel, würde mit ihm geschehen, selbst wenn er tatsächlich sofort zurückkäme? Diese fixe Idee mit den Visionen und dem Haus und dem Auftrag war dabei, ihn zugrunde zu richten. Und überdies hatte sie das deutliche Gefühl, daß er nicht zurück kommen würde.
    Jetzt, als sie halb träumend in der klaren Nachmittagssonne saß, hatte sie keinen Zweifel daran, daß Michael inzwischen betrunken war und daß er noch betrunkener sein würde, ehe er sein mysteriöses Haus erreichte. Es wäre sehr viel besser für ihn gewesen, wenn sie mitgekommen wäre, um sich um ihn zu kümmern und ihn durch die Schrecken dieser Reise zu führen.
    Ja, sie sah jetzt, daß sie Michael schon zweimal im Stich gelassen hatte: einmal, als sie ihn zu

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