Hexenstunde
Treppe hinaufging.
Am besten dachte sie gar nicht an das Papier im Safe, auf dem stand, daß sie nicht nach New Orleans fahren durfte. Am besten dachte sie gar nicht daran, in ein Flugzeug zu steigen und zu ihm zu fliegen. Am besten dachte sie gar nicht an Andrew Slattery, ihren Kollegen, der die Stelle in Stanford immer noch nicht bekommen hatte und der sie mit Vergnügen für zwei Wochen in der Uniklinik vertreten würde. Aber warum, zum Teufel, hatte sie Lark heute abend nach Slattery gefragt, und warum hatte sie ihn dann noch kurz nach Mitternacht angerufen, nur um ihn zu fragen, ob er die Stellung inzwischen bekommen habe? Irgendwas ging doch da vor sich in ihrem fieberhaften kleinen Verstand…
Es war drei Uhr, als sie die Augen aufschlug. Jemand war im Haus. Sie wußte nicht, was für ein Geräusch, was für eine Vibration sie geweckt hatte, aber sie wußte, daß jemand da war. Abgesehen von den fernen Lichtern der Stadt waren die Ziffern der Digitaluhr die einzige Beleuchtung. Eine starke Windbö stürmte plötzlich gegen die Fensterscheiben, und mit ihr eine Wolke von glitzernder Gischt.
Sie merkte, daß das Haus auf seinen Pfählen heftig schwankte. Leise klirrte irgendwo Glas.
Sie stand auf, so leise sie konnte, nahm einen .38er Revolver aus der Kommodenschublade, spannte den Hahn und ging an die Treppe. Sie hielt den Revolver mit beiden Händen, wie Chase, ihr Polizisten-Freund, es ihr beigebracht hatte. Sie hatte mit dieser Waffe geübt, und sie konnte damit umgehen. Sie verspürte weniger Angst als vielmehr Wut, stille Wut und ruhige Wachsamkeit.
Sie hörte keine Schritte. Sie hörte nur den Wind, der fern im Kamin heulte und die dicken Glaswände ganz leise ächzen ließ.
Unter sich sah sie das Wohnzimmer im gewohnten Glanz des bläulichen Mondlichts. Wieder prasselte eine Salve Tropfen gegen die Fenster. Sie hörte die Sweet Christine dumpf gegen die Gummireifen am Nordsteg schlagen.
Lautlos ging sie nach unten, Stufe um Stufe, und mit jeder Biegung der Treppe streifte ihr Blick durch die leeren Räume. Es gab keinen Winkel im ganzen Haus, den sie von hier aus nicht sehen konnte, mit Ausnahme des Badezimmers hinter ihr. Und da sie ins Leere blickte, wohin sie auch schaute, und nur die sich schwerfällig wiegende Sweet Christine sah, näherte sie sich vorsichtig der Badezimmertür.
Der kleine Raum war leer. Nichts war verändert. Michaels Kaffeetasse stand noch auf der Ablage vor dem Spiegel. Der Duft von Michaels Rasierwasser hing noch in der Luft.
Sie schaute noch einmal durch die vorderen Zimmer und lehnte sich dann an den Türrahmen. Die Wut, mit der der Wind gegen die Glaswände anstürmte, erschreckte sie. Aber gehört hatte sie es in der Vergangenheit schon oft. Nur einmal war der Sturm stark genug gewesen, um eine Scheibe zu zerbrechen. Und noch nie hatte es einen solchen Sturm im August gegeben. Es war immer eine Wintererscheinung gewesen, gepaart mit den schweren Regenfällen, die von den Bergen von Marin County herabrauschten, Schlamm in die Straßen spülten und manchmal Häuser von ihren Fundamenten schwemmten.
Jetzt schaute sie mit unbestimmter Faszination zu, wie das Wasser auf die langgestreckten Veranden spritzte und klatschte und sie dunkel befleckte. Sie sah, daß die Bootshausscheibe der Sweet Christine von feinen Tröpfchen überzogen war. Hatte dieses plötzliche Unwetter sie geweckt? Sie streckte unsichtbare Fühler aus und lauschte.
Abgesehen vom Ächzen in Glas und Holz hörte sie nichts Fremdartiges. Aber irgend etwas stimmte hier nicht. Sie war nicht allein. Und der Eindringling war nicht oben im ersten Stock, dessen war sie sicher. Er war in ihrer Nähe. Er beobachtete sie. Aber wo? Sie wußte keine Erklärung für dieses Gefühl.
Die Ziffern der Digitaluhr in der Küche klappten mit leisem, kaum hörbarem Klicken um und verkündeten, daß es nunmehr fünf Minuten nach drei sei.
Etwas bewegte sich in ihrem Augenwinkel. Sie drehte sich nicht um. Sie rührte sich überhaupt nicht. Nur ihr Blick richtete sich scharf nach links, ohne daß sie den Kopf bewegte, und allmählich erkannte sie die Gestalt eines Mannes, der auf der westlichen Veranda stand.
Er schien schlank zu sein; sein Gesicht war weiß, sein Haar dunkel. Seine Haltung war weder verstohlen noch drohend. Er stand unerklärlich gerade, und seine Arme hingen ganz natürlich herunter. Aber bestimmt sah sie ihn nicht ganz deutlich, denn seine Kleidung erschien verwunderlich, wenn nicht gar unmöglich:
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