Hexenstunde
dem Rasen am Jackson Square. Eine Frau drehte sich im Vorbeigehen um und warf einen Blick auf die braunhaarige Gestalt. Ja, dort, genau wie zuvor! Der Doktor rannte durch die Straßen des French Quarter. Vor einem Hoteleingang fand er ein Taxi, und er befahl dem Fahrer, ihn von hier wegzubringen, irgendwohin, egal, wohin.
Im Laufe der Zeit hörte der Doktor auf, Angst zu haben: Was er fühlte, war Grauen. Er konnte weder essen noch schlafen. Er konnte sich auf nichts konzentrieren. Er bewegte sich in absoluter Düsterkeit. Den alten Psychiater starrte er in stummer Wut an, wann immer ihre Wege sich kreuzten.
Wie, in Gottes Namen, konnte er diesem monströsen Ding zu verstehen geben, daß er der bejammernswerten Frau auf dem Verandaschaukelstuhl nicht mehr nahe kommen würde? Keine Spritzen, keine Drogen mehr von ihm! Ich bin nicht mehr der Feind, siehst du das nicht?
Einen Bekannten um Hilfe oder verständnisvolles Gehör zu bitten, hätte seinen Ruf, ja seine ganze Zukunft in Gefahr gebracht. Ein Psychiater, der verrückt wurde wie seine Patienten. Er war verzweifelt. Er mußte diesem Ding entkommen. Wer konnte wissen, wann es ihm das nächste Mal auflauern würde? Was wäre, wenn es sogar hierher in diese Räume kommen könnte?
Endlich, eines Montagmorgens, fand er sich mit bloßliegenden Nerven und zitternden Händen im Büro des alten Psychiaters ein. Er hatte noch nicht entschieden, was er sagen würde; er wußte nur, daß er die Anspannung nicht länger ertragen konnte. Wenig später hörte er sich von der tropischen Hitze plappern, von Kopfschmerzen und schlaflosen Nächten, und von der Notwendigkeit, daß seine Kündigung rasch angenommen werde.
Noch am selben Nachmittag ließ er New Orleans hinter sich.
Erst als er unversehrt im Büro seines Vaters in Portland, Maine, angelangt war, offenbarte er endlich die ganze Geschichte.
»Es war nie etwas Bedrohliches in seinem Gesicht«, erklärte er. »Im Gegenteil. Es war seltsam faltenlos und so sanft wie das Antlitz Christi auf dem Porträt an der Wand in ihrem Zimmer. Es starrte mich immer nur an. Es wollte nicht, daß ich ihr die Spritze gab! Es versuchte mir Angst einzujagen.«
»Jetzt kommt es darauf an, Larry, daß du dich ausruhst«, sagte sein Vater. »Daß du die Auswirkungen dieser ganzen Geschichte abklingen läßt. Und daß du niemandem sonst davon erzählst. «
Jetzt, als er in dem dunklen New Yorker Hotelzimmer am Fenster stand, spürte er, wie die ganze Sache ihn wieder überwältigte. Und wie schon tausend Male zuvor, analysierte er die seltsame Geschichte. Er suchte nach ihrer tieferen Bedeutung.
Hatte das Ding in New Orleans ihm wirklich nachgestellt, oder hatte der Doktor die stumme Erscheinung mißverstanden?
Vielleicht hatte der Mann überhaupt nicht versucht, ihn in Schrecken zu versetzen. Vielleicht hatte er ihn in Wirklichkeit beschworen, die Frau nicht zu vergessen! Vielleicht war er auf irgendeine Weise eine bizarre Projektion der verzweifelten Gedanken dieser Frau gewesen, ein Bild, ausgesandt von einem Geist, der sich nicht anders mitzuteilen wußte. Aber wer konnte solche seltsamen Erscheinungen deuten? Wer würde es wagen, dem Doktor recht zugeben?
Aaron Lightner, der Engländer, der Sammler von Geistergeschichten, der ihm die Visitenkarte mit dem Wort Talamasca gegeben hatte? Er hatte gesagt, er wolle dem ertrunkenen Mann in Kalifornien helfen. »Vielleicht weiß er nicht, daß es auch anderen passiert ist. Vielleicht werde ich gebraucht, damit ich ihm erzähle, daß auch andere vom Rande des Todes mit solchen übersinnlichen Gaben zurückgekehrt sind.«
Ja, das würde helfen, nicht wahr? Zu wissen, daß auch andere schon Geister gesehen hatten.
Aber das war nicht das Schlimmste – einen Geist zu sehen. Etwas Schlimmeres als Furcht hatte ihn zu dieser vergitterten Veranda und der bleichen Gestalt der Frau dort im Schaukelstuhl zurückgebracht. Es war die Schuld, eine Schuld, die er ein Leben lang tragen würde: Weil er sich nicht mehr Mühe gegeben hatte, ihr zu helfen, und weil er nie diese Tochter drüben an der Westküste angerufen hatte.
Der Morgen dämmerte eben über der Stadt. Er beobachtete, wie der Himmel sich veränderte, wie zartes Licht die schmutzigen Mauern gegenüber erhellte. Dann ging er zum Wandschrank und zog die Karte des Engländers aus der Tasche seines Jacketts.
DIE TALAMASCA
Wir wachen
Und wir sind immer da
Er griff zum Telephonhörer.
Lightner erwies sich als
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