Hexenstunde
ausgezeichneter Zuhörer, der behutsam reagierte, ohne je zu unterbrechen. Aber der Doktor fühlte sich nicht besser. Im Gegenteil, er kam sich albern vor, als es vorbei war. Als er zusah, wie Lightner seinen kleinen Recorder einpackte und in seine Aktentasche schob, hatte er nicht übel Lust, sich das Band aushändigen zu lassen.
Es war Lightner, der das Schweigen brach, während er ein paar Geldscheine auf die Frühstücksrechnung legte.
»Es gibt da etwas, das ich Ihnen erklären muß«, sagte er. »Ich glaube, es wird Sie erleichtern.«
Was konnte das schon sein?
»Sie erinnern sich«, sagte Lightner, »daß ich Ihnen erzählt habe, ich sammelte Geistergeschichten.«
»Ja.«
»Nun, ich kenne das alte Haus in New Orleans. Ich habe es gesehen. Und ich habe Berichte von anderen Leuten aufgezeichnet, die den von Ihnen beschriebenen Mann gesehen haben.«
Der Doktor war sprachlos. Der Mann hatte mit absoluter Überzeugung gesprochen. Ja, er hatte mit solcher Autorität und Sicherheit gesprochen, daß der Doktor ihm aufs Wort glaubte. Er betrachtete Lightner zum erstenmal näher. Er war älter, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Fünfundsechzig vielleicht, oder sogar siebzig. Wieder fühlte der Doktor sich gefangen von Lightners Gesichtsausdruck, so liebenswürdig und vertrauensvoll, und gleichzeitig so vertrauenerweckend.
»Andere«, flüsterte der Doktor. »Sind Sie sicher?«
»Ich habe andere Berichte gehört, und manche waren dem Ihren ganz ähnlich. Ich sage Ihnen das, damit Sie begreifen können, daß Sie sich das Ganze nicht eingebildet haben. Damit es Ihnen nicht weiter quälend auf dem Herzen liegt. Sie hätten Deirdre Mayfair übrigens nicht helfen können. Carlotta Mayfair hätte es niemals zugelassen. Sie sollten die ganze Geschichte vergessen. Zerbrechen Sie sich nicht länger den Kopf darüber.«
Für einen Augenblick fühlte der Doktor Erleichterung. Dann erkannte er jäh die volle Bedeutung dessen, was Lightner ihm da offenbart hatte.
»Sie kennen diese Leute!« wisperte er. Er spürte, wie sein Gesicht sich rötete. Die Frau war seine Patientin gewesen.
»Nein. Nur vom Hörensagen«, antwortete Lightner. »Und ich werde Ihren Bericht absolut vertraulich behandeln. Bitte seien Sie dessen versichert. Erinnern Sie sich: Wir haben bei der Tonbandaufnahme keine Namen genannt. Nicht einmal Ihren oder meinen.«
»Trotzdem muß ich Sie um das Band bitten«, erklärte der Doktor aufgebracht. »Ich habe gegen die Schweigepflicht verstoßen. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie Bescheid wußten.«
Sofort nahm Lightner die kleine Kassette heraus und legte sie dem Doktor in die Hand. Er schien nicht im geringsten erschüttert. »Natürlich können Sie es behalten«, sagte er. »Ich habe dafür Verständnis.«
Der Doktor bedankte sich murmelnd, und seine Verwirrung verstärkte sich. Seine Erleichterung war nicht restlos verflogen. Andere hatten dieses Wesen gesehen. Dieser Mann kannte es. Er log nicht. Der Doktor war nicht verrückt, war es nie gewesen. Eine leise Bitterkeit erwachte in ihm, Bitterkeit gegen seine Vorgesetzten in New Orleans, gegen Carlotta Mayfair, gegen diese gräßliche Miss Nancy…
»Wichtig ist«, sagte Lightner, »daß Sie sich deshalb keine Sorgen mehr machen.«
»Ja«, sagte der Doktor. »Grauenhaft, das Ganze. Diese Frau, die Medikamente.«
Nein, du darfst nicht einmal… Er verstummte, starrte auf die Kassette, dann auf seine leere Kaffeetasse. »Die Frau – ist sie immer noch…?«
»Unverändert. Miss Nancy ist gestorben – die, die Ihnen so unsympathisch war. Miss Millie ist schon vor einer Weile dahingegangen. Ab und zu höre ich von Leuten dort in der Stadt, und den Berichten zufolge hat Deirdre sich nicht verändert.«
Langsam blickte der Doktor auf und musterte Lightner von neuem. Der Mann schloß seine Aktentasche. Er studierte sein Flugticket, fand es offenbar zufriedenstellend und schob es in die Innentasche seiner Jacke.
»Lassen Sie mich noch eines sagen«, schloß Lightner, »und dann muß ich zum Flughafen. Erzählen Sie die Geschichte niemandem sonst. Man wird Ihnen nicht glauben. Nur wer solche Dinge schon gesehen hat, glaubt daran. Es ist tragisch, aber leider wahr.«
»Ja, ich weiß«, sagte der Doktor. So viele Fragen, die er gern gestellt hätte – aber er konnte nicht. »Was ist er? Ein Geist? Ein Gespenst?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was er ist. Die Geschichten sind alle sehr ähnlich. Die Dinge dort ändern sich nicht. Sie
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