Hexenstunde
gehen immer weiter, Jahr um Jahr. Aber ich muß jetzt gehen, und ich danke Ihnen noch einmal. Sollten Sie noch einmal mit mir sprechen wollen, so wissen Sie, wie Sie mich erreichen können. Sie haben meine Karte.« Lightner streckte die Hand aus. »Auf Wiedersehen.«
»Warten Sie. Die Tochter – was ist aus ihr geworden? Die Assistenzärztin an der Westküste?«
»Na, die ist inzwischen Chirurgin«, sagte Lightner mit einem Blick auf die Uhr. »Neurochirurgin, glaube ich. Hat kürzlich ihre Prüfungen abgelegt. Aber ich kenne sie natürlich auch nicht näher, wissen Sie. Ich höre nur hin und wieder von ihr. Unsere Wege haben sich einmal gekreuzt.« Er brach ab und lächelte dann rasch, beinahe förmlich. »Auf Wiedersehen, Doktor, und nochmals vielen Dank.«
Der Doktor blieb lange sitzen und dachte nach. Er fühlte sich wohler, unendlich viel wohler. Er bereute nicht, daß er die Geschichte erzählt hatte. Im Gegenteil, die ganze Begegnung erschien ihm wie ein Geschenk des Schicksals, um ihm die schlimmste Last, die er je getragen hatte, von den Schultern zu nehmen.
Dann kam ihm ein überaus kurioser Einfall, ein Gedanke, der ihm jahrelang nicht in den Sinn gekommen war. Er war niemals während eines Sturzregens in diesem großen Haus im Garden District gewesen. Aber wie schön wäre es gewesen, den Regen durch diese schmalen, hohen Fenster zu sehen, den Regen auf den Verandadächern zu hören. Wirklich schade, daß er so etwas verpaßt hatte. Damals hatte er oft daran gedacht, aber immer hatte er den Regen verpaßt. Und der Regen in New Orleans war so schön.
Nun, aber das ließ er jetzt alles hinter sich, nicht wahr? Wieder spürte er, daß er auf das Gespräch mit Lightner reagierte, als habe dieser ihm die Beichte abgenommen und ihn von einer schweren Last befreit. Ja, das alles ließ er jetzt hinter sich.
Er winkte der Kellnerin. Er hatte Hunger. Jetzt wollte er ein Frühstück, wollte er essen. Und ohne viel darüber nachzudenken, zog er Lightners Karte aus der Tasche, warf einen Blick auf die Telephonnummern – die Nummern, die er anrufen könnte, wenn er noch Fragen hätte, die Nummern, die er nie mehr anzurufen gedachte -, und dann zerriß er die Karte in kleine Fetzen, legte sie in den Aschenbecher und zündete sie mit einem Streichholz an.
2
Neun Uhr abends. Im Zimmer war es dunkel, abgesehen vom bläulichen Licht des Fernsehapparates.
Durch die klaren, schmucklosen Fenster sah er die Lichter der Innenstadt von San Francisco, und gleich darunter die spitzen Dächer der kleineren Queen-Anne-Häuser auf der anderen Seite der Liberty Street. Wie liebte er die Liberty Street. Sein Haus war das größte in diesem Straßenzug, früher vielleicht eine Villa, jetzt nur noch ein schönes Haus, das sich majestätisch zwischen bescheideneren Hütten erhob.
Er hatte dieses Haus »restauriert«. Er kannte jeden Nagel, jeden Balken, jede Leiste. In der Sonne hatte er mit nacktem Oberkörper das Dach gedeckt. Er hatte sogar den Zement für den Gehweg gegossen.
Jetzt fühlte er sich sicher in diesem Haus, und sicher nirgendwo sonst. Seit vier Wochen hatte er dieses Zimmer nicht mehr verlassen, außer um das kleine Bad nebenan aufzusuchen.
Stunde um Stunde lag er im Bett, die Hände heiß in den schwarzen Lederhandschuhen, die er nicht ausziehen konnte und nicht ausziehen wollte, und starrte auf den geisterhaften Schwarzweißbildschirm vor ihm. Vom Fernseher ließ er seine Träume formen, mittels der Videobänder, die er so sehr liebte, der Videobänder mit den Filmen, die er vor Jahren mit seiner Mutter angesehen hatte. Jetzt waren es die »Haus-Filme« für ihn, denn sie alle enthielten nicht nur wunderbare Geschichten und wunderbare Menschen, die seine Helden und Heldinnen geworden waren, sondern auch wunderbare Häuser. In Rebecca gab es Manderley. In Große Erwartungen gab es Miss Havishams verfallene Villa. In Gaslicht gab es dieses wunderbare Londoner Stadthaus. In Die roten Schuhe gab es das Landhaus an der See, in dem die hübsche Tänzerin erfuhr, daß sie bald Primaballerina der Truppe sein würde.
Ja, die Haus-Filme, die Filme seiner Kindheitsträume mit ihren Figuren, ebenso groß wie die Häuser. Er trank ein Bier nach dem anderen, während er sie sich ansah. Er schlummerte ein, erwachte wieder. Die Hände in den Handschuhen schmerzten. Er ging nicht ans Telephon. Er ging nicht an die Tür. Tante Vivian kümmerte sich um all das.
Ab und zu kam Tante Vivian zu ihm ins Zimmer. Dann
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