Hexenstunde
sie. »Es tut mir leid. Ich glaube, Sie haben mich ein bißchen unvorbereitet erwischt.«
»Ja«, sagte die Frau. »Vielleicht waren wir beide nicht auf so etwas vorbereitet. Anscheinend habe ich keine andere Wahl: Ich muß mit dir direkt sprechen.«
»Ich wäre froh, wenn Sie es täten.«
»Ich habe die unglückselige Pflicht, dir mitzuteilen, daß deine Mutter heute morgen gestorben ist. Ich nehme an, du hast verstanden, was ich sage? Deine Mutter! Ich hatte die Absicht, es Ellie zu sagen und es dann gänzlich ihr zu überlassen, wie oder wann sie dir diese Nachricht eröffnen möchte. Ich bedaure, daß ich es nun so handhaben muß. Deine Mutter starb heute morgen um fünf Minuten nach fünf.«
Rowan war wie betäubt; ebenso gut hätte die Frau sie ohrfeigen können. Dies war keine Trauer. Dazu war es zu schneidend, zu schrecklich. Ihre Mutter war jählings zum Leben erwacht, hatte für den Bruchteil einer Sekunde im gesprochenen Wort gelebt und geatmet und existiert. Und im selben Moment war das lebende Wesen für tot erklärt worden: Sie existierte nicht mehr.
Rowan versuchte nicht, zu sprechen. Sie versank in ihr gewohnheitsmäßiges, natürliches Schweigen. Sie sah Ellie vor sich, tot im Bestattungsinstitut, von Blumen umgeben; aber das hier hatte keinen Zusammenhang, barg nicht den süßen Schmerz der Trauer. Und das Papier lag im Safe, seit mehr als einem Jahr. Ellie, sie hat gelebt, und ich hätte sie kennen können, und jetzt ist sie tot.
»Es ist absolut nicht erforderlich, daß du herkommst«, fuhr die Frau fort, ohne daß sich ihr Benehmen oder ihr Tonfall merklich geändert hätte. »Erforderlich ist, daß du unverzüglich mit deinem Anwalt Kontakt aufnimmst und mich mit ihm in Verbindung bringst, da dringende Angelegenheiten im Zusammenhang mit deinem Eigentum zu erörtern sind.«
»Oh, aber ich möchte gern kommen«, sagte Rowan, ohne zu zögern. Ihre Stimme klang gepreßt. »Ich möchte sofort kommen. Ich möchte meine Mutter sehen, bevor sie beerdigt wird.« Zur Hölle mit dem Papier und mit dieser unsäglichen Frau, wer immer sie war.
»Das ist kaum angebracht«, wandte die Frau müde ein.
»Ich bestehe darauf«, sagte Rowan. »Ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, aber ich möchte meine Mutter sehen, bevor sie beerdigt wird. Niemand dort braucht zu wissen, wer ich bin. Ich will einfach nur kommen.«
»Es wäre eine nutzlose Reise. Sicher hätte Ellie das nicht gewollt. Ellie hat mir immer versichert, daß…«
»Ellie ist tot!« flüsterte Rowan heiser vor lauter Anstrengung, sich zu beherrschen. Sie zitterte am ganzen Leibe. »Hören Sie, es bedeutet mir etwas, daß ich meine Mutter sehen kann. Ellie und Graham sind beide nicht mehr da, wie ich Ihnen sagte. Ich…« Sie brachte es nicht heraus. Es klang zu selbstmitleidig und zu vertraulich, wenn sie gestand, daß sie allein war.
»Ich muß darauf bestehen«, sagte die Frau in ihrem unverändert müden, verschlissenen, gefühllosen Ton, »daß du da bleibst, wo du bist.«
»Warum?« fragte Rowan. »Was kümmert es Sie, ob ich komme? Ich sage doch, niemand braucht zu wissen, wer ich bin.«
»Es wird keine öffentliche Totenfeier und Beerdigung geben«, sagte die Frau. »Es ist ohne Bedeutung, wer etwas weiß oder nicht weiß. Deine Mutter wird beerdigt werden, sobald es sich arrangieren läßt. Ich habe darum gebeten, es bis morgen nachmittag zu erledigen. Mit meinen Empfehlungen will ich dir Schmerz ersparen. Aber wenn du nicht hören willst, dann tu, was du tun zu müssen glaubst.«
»Ich komme«, sagte Rowan. »Wann morgen nachmittag?«
»Deine Mutter wird von Lonigan und Söhne in der Magazine Street beerdigt. Die Totenmesse wird in der Kirche Maria Himmelfahrt in der Josephine Street gelesen. Und die Beerdigung findet statt, sobald ich es arrangieren kann. Es ist völlig sinnlos, daß du zweitausend Meilen weit…«
»Ich will meine Mutter sehen. Ich bitte Sie, zu warten, bis ich dort sein kann.«
»Das ist absolut ausgeschlossen«, erwiderte die Frau mit einem leisen Unterton von Ärger oder Ungeduld. »Ich rate dir, sofort aufzubrechen, wenn du entschlossen bist, zu kommen. Und bitte rechne nicht damit, daß du unter diesem Dach übernachten kannst. Ich verfüge nicht über die nötigen Mittel, um dich angemessen unterzubringen. Das Haus gehört natürlich dir, und ich werde es so schnell wie möglich räumen, wenn du dies wünschst. Aber ich bitte dich, in einem Hotel abzusteigen, bis es sich anders
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